#ZeroCovid – Solidarität in Zeiten der Pandemie?
Am 18. März führte ZeroCovid Rhein-Neckar einen spannenden virtuellen Infoabend mit Winfried Wolf durch. Wolf ist politischer Aktivist, Wissenschaftler, Ko-Autor von Corona, Kapital, Krise, Mitinitiator des ZeroCovid-Aufrufs und Herausgeber der ZeroCovid-Zeitung. Wir konnten mit ihm nach der Veranstaltung sprechen.*
Warum #ZeroCovid?
Ja, es ist eigentlich interessant und irritierend, dass die radikale Linke sich heute in der Pflicht sieht, eine Initiative und – nach Möglichkeit eine Kampagne – zu einem gesundheitlich-medizinischen Thema zu starten. Wäre eine linke Kampagne zu Malaria oder zur Tuberkulose vorstellbar? Gab es eine solche zu HIV / Aids? Eher nicht. Oder auch: Warum hat die Komintern nach dem Ersten Weltkrieg keine Kampagne zum Thema Spanische Grippe gestartet? Da gab es gut zehn Mal mehr Epidemie-Tote als heute im Fall COVID-19. Doch es war weder gesellschaftlich noch für die Linke ein Thema. In dem linken Klassiker von Jürgen Kuczynski Die Lage der Arbeiterklasse von 1917/18 bis 1932/33 tauchen auf den 300 Seiten unter anderem auf die Reallöhne, die Kurzarbeitergelder, natürlich die Arbeitslosen, die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder, die Krankentage pro Mitglied, die Unfälle am Arbeitsplatz, die Fehlgeburten, die Totgeburten … aber nicht die gewaltige Pandemie Spanische Grippe.1 Das scheint damals für linke Politik kein Thema gewesen zu sein. Wobei ich jetzt nicht weiß, ob es kommunistische Epidemiologen gab, die das eventuell in der jungen Sowjetrepublik aufgriffen, aber in der westlichen Welt weitgehend unerhört blieben.
Warum das so war, kann ich nicht überzeugend beantworten – wohl weil der Tod damals, am Ende des Ersten Kriegs, millionenfach Normalität war. Andererseits starben wesentlich mehr Menschen an der Spanischen Grippe als im gesamten Ersten Weltkrieg. Diese Frage zu untersuchen, wäre eine spannende, wissenschaftliche Aufgabe.
Was die aktuelle Situation betrifft, ist meine Antwort dreifach: Linke sind nicht zuletzt auch Humanistinnen und Humanisten. Das menschliche Leben und die Gesundheit im umfassenden Sinn sind ein sehr hoher Wert. Im Ganz-Großen dann: Das Überleben der menschlichen Spezies ist heute eine wichtige Zielsetzung, wo der Kapitalismus logischerweise versagt und weswegen die Klimafrage auch eine Klassenfrage ist. Zweitens – im Fall COVID-19 erleben wir ein grundsätzliches Versagen der bürgerlichen Politik und zwar NICHT aus sachlichen-objektiven Gründen, sondern als Resultat von Klassenpolitik. Darauf komme ich zurück. Drittens: Diese Pandemie kann erfolgreich bekämpft werden und die Mittel, die dabei entscheidend sind, haben auch viel mit linker Politik – also erneut mit Klassenpolitik – zu tun. Da geht es um Solidarität, Gemeinsinn, kollektive Aktion und um die Einbeziehung des Heiligen Gral im Kapitalismus: der Mehrwertproduktion, der kapitalistischen Ausbeutung in Betrieben und Büros in die Pandemiebekämpfung.
Was ist der Unterschied zu NoCovid?
Der tendiert gegen Nullkommafünf. Beide Initiativen sagen: Solange es keine Herdenimmunität in Folge von Infektionen und Impfen gibt, muss man das Virus nahe Null bringen. Wir – ZeroCovid – sagen dabei laut und deutlich: Dabei muss man logischerweise die Wirtschaft – das Arbeiten in Betrieben, Büros, auf dem Bau, in Logistikzentren usw. in einen Shutdown mit einbeziehen. Die NoCovid-Leute sagen das eher leise oder gar nicht. Sie denken aber eigentlich wie wir.
Gegen #ZeroCovid wird viel und aus unterschiedlichen politischen Ecken polemisiert. Was sind die Hauptkritiken? Und was antwortest Du darauf?
Gegen diese Initiative – also gegen ZeroCovid, weitgehend aber auch gegen NoCovid – werden im Wesentlichen drei Argumente vorgebracht: Erstens heißt es, „Zero“ sei unrealistisch. Darauf antworten wir: Das ist eine politische Zahl. Wie wir sie anderswo auch verwenden. Wir fordern auch eine „Null-CO2-Wirtschaft“. Die offizielle Politik in Schweden in Sachen Straßenverkehr lautet: „Null Straßenverkehrstote“. Realistisch? Eher nicht. Aber politisch richtig. Zweitens wird argumentiert: Das „ZeroCovid“ europaweit zu erreichen, sei unrealistisch. Antwort: Der genannte Raum ist weit realistischer einzugrenzen und bietet den Menschen in diesem Raum auch bei einer Umsetzung dieser ZeroCovid-Ziele weit mehr Freiheiten und weit eher ein relativ normales Leben als dies z. B. in Neuseeland oder auch im Raum Australien der Fall ist. Wobei natürlich das Versagen auf EU-Ebene noch krasser als dasjenige auf nationalstaatlicher Ebene ist. Insofern bin ich mir aktuell unsicher, ob man nicht mit Blick auf die dritte Welle, worauf wir sicher noch zu sprechen kommen, Maßnahmen für einen engeren Raum vorschlagen muss. Drittens wird gegen uns argumentiert, die Raumbegrenzung auf Europa sei „eurozentristisch“. Antwort: Natürlich wäre die Forderung, die Pandemie-Bekämpfung durch einen WELT-Shutdown anzugehen, abstrakt gesehen nicht falsch – aber doch nochmals deutlich weniger „realistisch“ als der Ansatz „Europa“. Zumal es in anderen Regionen ja längst die Politik „ZeroCovid“ gibt. Für 1,8 Milliarden Menschen gilt (als erklärtes Politik-Ziel und weitgehend als gesellschaftliche Wirklichkeit) „ZeroCovid“. Auch wenn wir grundsätzlich der EU gegenüber kritisch eingestellt sind, so fordern wir natürlich dort, wo es praktischerweise Sinn macht, EU-weite Standards zum Beispiel in Sachen Gen-Technik (also ein Gen-Technik-Verbot). Ich fände die Forderung nach einer EU-weiten 30-Stunden-Woche und einem EU-weiten Mindestlohn sinnvoll. Und natürlich ist die Forderung nach einer westeuropaweiten (also EU plus Norwegen, Schweiz und Großbritannien) Aufnahme von Geflüchteten richtig. Umgekehrt ist die aktuelle Situation, dass jedes Land eine eigene (flüchtlingsfeindliche) Politik betreibt und man europaweit – Stichwort: Frontex – die flüchtenden Menschen abwehrt und Tausende von ihnen im Mittelmeer ertrinken lässt, ein Verbrechen gegen die Menschheit.²
Viele Menschen sind wegen des offenkundigen Scheiterns der Corona-Politik der Herrschenden müde, zutiefst frustriert und umfassend geschädigt. Kann da eine Argumentation für einen „solidarischen Lockdown“ breites Gehör finden?
Hätte jemand vor zweieinhalb Jahren zu Greta Thunberg gesagt: „Die Leute haben die Schnauze voll von diesem Klima-Gerede. Die große Politik macht doch eh das, was oben gewünscht wird. Kann denn Deine Argumentation, man müsse jetzt weltweit aktiv werden, breites Gehör finden?“, hätte Frau Thunberg wohl geantwortet mit: „Du hast ja recht. Wenn ich hier an jedem Freitag vor dem Riksdagshuset auf Helgeandsholmen sitze, dann erscheint das hilflos. Auch in meiner Schulklasse werde ich eher als skurril oder eben als ‚hoffnungslos idealistisch‘ angesehen. Doch ich finde, jemand muss damit beginnen. Wir müssen aufstehen.“
Immer wieder ist die Arbeitswelt Schauplatz von massiven Corona-Ausbrüchen. Ein wirksamer Infektionsschutz ist durch das Arbeitsschutzgesetz und die SARS-CoV-2-Arbeitsschutzverordnung verpflichtend vorgeschrieben. Beides wird aber flächendeckend ignoriert. Warum nimmt sich #ZeroCovid dieses Skandals nicht mehr an?
Weil wir hier zu wenig Kompetenz haben. Der Artikel von Wolfgang Alles in der ersten Ausgabe von ZeroCovid war da ein guter Anfang. Das müsste man in der zweiten Ausgabe vertiefen; vor allem um praktische Beispiele und Initiativen ergänzen. Es ist ja auch so, dass die Linke, insoweit sie in Betrieben verankert ist, auf dem Gebiet so gut wie gar nicht aktiv ist. Auch die Gewerkschaften versagen da fast komplett. Wobei die Stimmung in den Betrieben, an der Basis der arbeitenden Klasse, jetzt auch nicht gerade so ist, dass das ein großes Thema wäre. Es ist ja nicht allein die Mittelklasse, die in den 700 Jets, die über Ostern, im Zeitraum 20. März bis 7. April nach Mallorca fliegen, sitzt. Das Bewusstsein, man müsse „halt mit dem Virus leben“, ist in der gesamten Gesellschaft verbreitet. Doch diese Haltung ist zutiefst darwinistisch, egozentrisch.
#ZeroCovid hat einen erfreulichen Medienwiderhall. Über 108.667 Menschen haben bisher den Aufruf unterschrieben (Stand 27.03.2021). Die erste Nummer der ZC-Zeitung ist bundesweit verbreitet worden. Also alles im grünen Bereich?
Nein. Im „grünen Bereich“ sind wir absolut nicht. Zunächst einmal: Die Unterschriftenzahl ist ein Erfolg, klar. Die erste Ausgabe der Zeitung lag der taz bei und wurde darüber hinaus bislang mit deutlich mehr als 40.000 Exemplaren auf Rechnung bestellt und vertrieben. Das ist ganz passabel. Doch es gibt eine Reihe ernster Probleme. Zunächst gibt es keine Kontinuität linker Politik in dieser Angelegenheit. Ich habe ja im April 2020 bereits eine Zeitung zu COVID-19 gegründet. Der Titel war FaktenCheck:CORONA. Das knüpfte an eine gewisse Tradition eines vergleichbaren linken, radikalen Engagements an.³ Da erschienen zwei Ausgaben, eine erste, wie erwähnt, im April, und die zweite im Juli 2020. Die erste Ausgabe wurde immerhin mit 35.000 Exemplaren vertrieben. Die zweite erreichte nur noch knapp 15.000 Exemplare. Da kam hinzu, dass im Juli vergangenen Jahres alle dachten: Die Pandemie ist so gut wie vorbei. Verena Kreilinger, Christian Zeller und ich veröffentlichten dann zwar im September noch unser Buch Corona, Kapital, Krise. Doch es gab damals keine breitere linke Initiative mehr zu dem Thema. Als wir am Jahresende 2020 neu die Initiative ergriffen – und hier war vor allem Christian Zeller aktiv – stießen wir zwar mit dem Projekt „ZeroCovid“ in eine Lücke. Doch es gab auch diese fatale Lücke in der linken Politik. FaktenCheck:CORONA war gestrandet.
Mehr noch: Die meisten linken Gruppen griffen das Thema erst gar nicht auf. Oder sie griffen nur seine soziale, aber nicht die epidemiologische (und klassenpolitisch durchaus relevante) Seite auf. Die Partei DIE LINKE hat bei dem Thema weitgehend versagt: Sie hat keine erkennbare Linie. Einige Prominente in der Partei, wie Sahra Wagenknecht, relativieren die epidemiologische Bedeutung der Pandemie, sie ignorieren die zunehmend rechtsextreme Einfärbung der Corona-Leugner-Demos und sie orientieren vereinfachend auf eine Kritik an den „Corona-Profiteuren“ wie „Big Pharma“ und Tech-Konzerne.⁴ Die Folge ist, dass die LINKE trotz des historischen Tiefs der SPD bei 7 Prozent verharrt, bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz bei 3,5 und 2,5 % landete und sich hüten muss, im September 2021 nicht in die Nähe der 5-Prozent-Marke zu rutschen. Schließlich sind wir auch deshalb nicht im „grünen Bereich“, weil es, im Gegensatz zu uns, auf Seiten der radikalen Linken, eine gut organisierte Struktur der Corona-Leugner gibt, an deren Spitze sich teilweise Ex-Linke befinden und die nach ganz rechts – zur faschistischen Rechten – offen ist. Angesichts des dramatischen Vakuums, das sich gerade als Resultat der Masken-Skandale und des Einbruchs der CDU-CSU-Stimmen auftut, ist das hochgefährlich. Nach der Bundestagswahl können wir eine extrem labile politische Lage bekommen, in der Angriffe durch flächendeckenden Sozialabbau plus Abbau demokratischer Rechte im Zusammenhang mit ehemaligen Pandemie-Gesetzen plus dem Bundeswehreinsatz im Inneren, den es jetzt tagtäglich gibt, plus neue Polizeigesetze, für die die LINKE z. B. in Berlin mitverantwortlich ist, plus möglicherweise ein Platzen der aktuellen spekulativen Booms an den Börsen im Zentrum stehen.
Die dritte Welle der Pandemie hat längst begonnen. Dennoch ist kein Ende des Systemversagens in Sicht. Was sollten wir dagegen tun?
Diese dritte Welle wurde von uns – aber auch von unabhängigen Fachleuten aus den Bereichen Virologie und Epidemiologie – vorhergesagt. Die Regierungen in Berlin und in den Ländern sind verantwortlich für das Ausmaß dieser dritten Welle. Sie haben Öffnungen vorgenommen mitten in diese dritte Welle hinein – das ist krass verantwortungslos. Sie sind damit verantwortlich für den unnötigen Tod von mehreren Zehntausend Menschen.⁵ Das muss so in aller Deutlichkeit gesagt werden. In dieser Situation gilt erneut unsere zentrale These: Diese Pandemie kann und muss in erster Linie – natürlich ergänzt um die anlaufende Impfkampagne – mit den klassischen Mitteln aus dem vorletzten Jahrhundert bekämpft werden: mit einem Shutdown, der die gesamte Gesellschaft erfasst, und mit dem Ziel, die Infektionen nahe null zu bekommen, gleichzeitig die Zahl der Beschäftigten in den Gesundheitsämtern durch kompetentes Personal aufzustocken, um so die Infektionsketten präzise verfolgen und mit Maßnahmen von Quarantäne, Isolation und Pflege von Erkrankten das Leben von Tausenden Menschen retten zu können.
Es ist doch krass, dass es in einem reichen Land wie Deutschland 25mal mehr Corona-Tote gibt als in dem armen Land Kuba.⁶ Dass wir Impfstoff-Knappheit haben, und dass in Kuba inzwischen drei Impfstoffe gegen Corona entwickelt wurden und einer bereits exportiert wird. Zusätzlich haben die Kubaner ein Medikament entwickelt, mit dem die Folgen der Erkrankung an Corona deutlich reduziert werden können.
Welche konkreten Aktivitäten plant #ZeroCovid für die kommenden Wochen und wie können sie unterstützt werden?
Wir werden Mitte April eine zweite Ausgabe von ZeroCovid machen. Diese muss auf den Ersten Mai orientieren. Der im Übrigen auf dem brutalen Höhepunkt dieser dritten Welle stattfindet wird. Es gibt Ansätze für lokale Gruppen, die auf unserer Plattform arbeiten. Es wurde damit begonnen, Aktionstage zu organisieren – so ein solcher am 10. April. Wir werden unsere Aufklärungsarbeit über den Charakter der Pandemie, die eben kein „Naturereignis“, sondern die wesentlich kapital-bedingt ist (Stichwort: Zoonose), weiter konkretisieren müssen. Und auch unsere Grundaussage, wonach der Corona-Tod von inzwischen mehr als 2,68 Millionen Menschen weltweit zum allergrößten Teil hätte verhindert werden können, wonach der größte Teil dieser Menschen starb, weil die Regierenden unfähig sind und weil sie unter dem Diktat einer Wirtschaftsweise stehen, für die gilt: „Profit geht über Leichen“.
Wir lernen im Augenblick für eine nicht ganz so helle Zukunft. Die Klimakrise könnte dann, wenn die ersten Kippunkte erreicht werden, zu einem autoritären Lockdown von oben und zu einer gesellschaftlichen Panik führen. Im Übrigen gilt auch: Nach der Pandemie ist vor der Pandemie.
*[Die Fragen stellte W. A.]