Putsch oder Aufstand?
Manuel Kellner
Hundert Jahre russische Revolution – und wieder verbreiten die bürgerlichen Medien ihre alte Leier: Die Eroberung der politischen Macht durch die Bolschewiki am 25. Oktober 1917 alter Zeitrechnung (8. November) wäre der Putsch einer kleinen Minderheit gewesen.
Für die Süddeutsche Zeitung zum Beispiel liegt die Würze in der Kürze: „Im Oktober putschen die Bolschewisten erneut - diesmal erfolgreich: Wladimir Iljitsch Uljanow, besser bekannt unter seinem Kampfnamen Lenin, reißt die Macht an sich.“ (http://www.sueddeutsche.de/politik/russisches-revolutionsjahr-wie-das-zarenreich-unterging-1.3409424-10)
Die geschichtliche Forschung kommt zu anderen Ergebnissen. Kein Wunder, wo doch Zeitzeugen - ausgewiesene politische Gegner der Bolschewiki! - schon ganz anders geurteilt hatten. So schrieb der Menschewik N. N. Suchanow: „Es ist sichtlich unsinnig, von einem Militärputsch statt von einem Volksaufstand zu sprechen, wenn hinter der Partei der überwältigende Teil der Bevölkerung steht und die Partei de facto bereits die gesamte reale Macht und Autorität erobert hat.“
Der bürgerliche deutsche Wissenschaftler Oskar Anweiler stellte fest: „In den Arbeiterräten der weitaus meisten Industriestädte hatten die Bolschewiki die Mehrheit, ebenso in den meisten Soldatenräten der Garnisonsstädte.“ Die englische Historikerin Beryl Williams schrieb im gleichen Sinne: „Die Massen sahen die Sowjetmacht … als Lösung ihrer Probleme an, und nur die Bolschewiki wurden wirklich mit der Sowjetmacht identifiziert. … Ihre Partei konnte sich nun auf einer Welle der Sympathie an die Macht tragen lassen.“
Am 10. Oktober (23. Oktober) sprach sich das Zentralkomitee der Bolschewiki für den Aufstand aus, ohne ein konkretes Datum zu nennen. Beide Seiten – die bereits weitgehend isolierte Provisorische Regierung und hochrangige Offiziere einerseits und revolutionäre Matrosen, Soldaten und aus den Belegschaften der Industriebetriebe hervorgegangene Rote Garden andererseits bereiteten sich vor aller Augen auf die entscheidende Auseinandersetzung vor.
Die Entscheidung
Das revolutionäre Militärkomitee unter Leitung von Leo D. Trotzki war eine offizielle Einrichtung der Sowjets, der Räte. Dieses Komitee gab das Signal zum Aufstand mit einer defensiv gehaltenen Losung: „Die Revolution ist in Gefahr! Abwehr der Verschwörer!“
In wenigen Stunden waren in der Hauptstadt Petrograd alle wichtigen Schaltstellen besetzt, und schließlich wurde auch die Regierung verhaftet. Dabei gab es nur ganz wenige Opfer, viel weniger als beim Februar-Aufstand, als die Zarenherrschaft zusammenbrach – und sehr viel weniger als auf den deutschen Autobahnen an einem beliebigen Wochenende des Jahrs 2017. Lynchmorde von Seiten der aufgebrachten Menge waren Einzelfälle. Führende Bolschewiki wie Wladimir A. Antonow-Owsejenko verhinderten solche Racheakte mit Appellen, die Ehre der Revolution nicht zu beflecken.
Zeitgleich trat der neu gewählte Sowjetkongress in der Hauptstadt zusammen, der gesamtrussische Kongress der Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräte. Mit 390 von 650 Delegierten hatten die Bolschewiki dort eine absolute Mehrheit. Gemäß ihrer Losung „Alle Macht den Räten!“ übergaben die Aufständischen diesem Rätekongress die Macht. Die bolschewistische Mehrheit bildete daraufhin zusammen mit den linken Sozialrevolutionären eine Koalitionsregierung, den ersten Rat der Volkskommissare. Die Rätemacht war in den ersten Jahren der Revolution radikal demokratisch, und mehrere Parteien und Strömungen waren in ihr vertreten.
Vgl. zum Thema: Ernest Mandel, Oktober 1917, Staatsstreich oder soziale Revolution, Köln 1992.