Por­trät des Nationalsozialismus*

 

Leo D. Trotzki



Und Trotz­ki, der pracht­vol­le Sachen schreibt, die ja durch die Welt­pres­se gehn und nicht der WB [der Welt­büh­ne] gehö­ren. Neu­lich ein Por­trät des Natio­nal­so­zia­lis­mus, das ist wirk­lich eine Meis­ter­leis­tung. Da stand alles, aber auch alles drin. Unbe­greif­lich, wie das einer schrei­ben kann, der nicht in Deutsch­land lebt. Kon­klu­sio: Krieg oder Revo­lu­ti­on. Ich weiß das nicht; er weiß mehr und kann mehr, der Trotzki.“
Kurt Tuchol­sky (25. Juli 1933).



Nai­ve Leu­te glau­ben, die Königs­wür­de ste­cke im König selbst, in sei­nem Her­me­lin­man­tel und in der Kro­ne, in sei­nem Fleisch und Bein. Aber die Königs­wür­de ist ein Ver­hält­nis zwi­schen Men­schen. Der König ist nur dar­um König, weil sich in sei­ner Per­son die Inter­es­sen und Vor­ur­tei­le von Mil­lio­nen Men­schen wider­spie­geln. Wenn die­ses Ver­hält­nis vom Strom der Ereig­nis­se weg­ge­spült wird, erweist sich der König bloß als ein ver­brauch­ter Herr mit her- abhän­gen­der Unter­lip­pe. Davon dürf­te, aus fri­schen Erleb­nis­sen, jener erzäh­len kön­nen, der sich einst Alfons XIII. nannte.

Der Unter­schied zwi­schen dem Füh­rer von Got­tes und dem von Vol­kes Gna­den ist der, daß die­ser dar­auf ange­wie­sen ist, sich selbst den Weg zu bah­nen oder wenigs­tens den Umstän­den zu hel­fen, ihn zu ent­de­cken. Aber jeder Füh­rer ist immer ein Ver­hält­nis zwi­schen Men­schen, ein indi­vi­du­el­les Ange­bot auf eine kol­lek­ti­ve Nach­fra­ge. Die Erör­te­run­gen über die Per­sön­lich­keit Hit­lers sind um so hit­zi­ger, je mehr man das Geheim­nis sei­nes Erfol­ges in ihm selbst sucht. Doch ist es schwer, eine ande­re poli­ti­sche Gestalt zu fin­den, die in einem sol­chen Maße Kno­ten unper­sön­li­cher geschicht­li­cher Kräf­te wäre. Nicht jeder erbit­ter­te Klein­bür­ger könn­te ein Hit­ler wer­den, aber ein Stück­chen Hit­ler steckt in jedem von ihnen.

Das rasche Wachs­tum des deut­schen Kapi­ta­lis­mus vor dem Krie­ge bedeu­te­te bei wei­tem nicht die ein­fa­che Auf­rei­bung der Mit­tel­klas­sen; wäh­rend er ein­zel­ne Schich­ten des Klein­bür­ger­tums zugrun­de rich­te­te, schuf er wie­der neue: Hand­wer­ker und Krä­mer um die gro­ßen Betrie­be her­um, Tech­ni­ker und Ange­stell­te in den Betrie­ben. Aber wäh­rend sie sich zah­len­mä­ßig hiel­ten – das alte und das neue Klein­bür­ger­tum umfaßt nicht viel weni­ger als die Hälf­te des deut­schen Vol­kes –, büß­ten die Mit­tel­klas­sen den letz­ten Schat­ten von Selb­stän­dig­keit ein: Sie leb­ten am Ran­de der Schwer­indus­trie und des Ban­ken­sys­tems, sie aßen die Bro­sa­men vom Tisch der Kar­tel­le, sie leb­ten von den geis­ti­gen Almo­sen ihrer alten Theo­re­ti­ker und Politiker.

Die Kriegs­nie­der­la­ge ver­bau­te dem deut­schen Impe­ria­lis­mus den Weg. Die äuße­re Dyna­mik ver­wan­del­te sich in die inne­re, der Krieg ging in die Revo­lu­ti­on über. Die Sozi­al­de­mo­kra­tie, die den Hohen­zol­lern gehol­fen hat­te, den Krieg bis zum tra­gi­schen Ende zu füh­ren, ver­bot dem Pro­le­ta­ri­at, nun sei­ner­seits die Revo­lu­ti­on bis zum Ende zu füh­ren. Vier­zehn Jah­re ver­gin­gen unter bestän­di­gen Ent­schul­di­gun­gen der Wei­ma­rer Demo­kra­tie für ihr eige­nes Dasein. Die Kom­mu­nis­ti­sche Par­tei rief die Arbei­ter zu einer neu­en Revo­lu­ti­on, erwies sich aber als unfä­hig, sie zu füh­ren. Die deut­schen Arbei­ter gin­gen durch die Sie­ge und Zusam­men­brü­che des Krie­ges, der Revo­lu­ti­on, des Par­la­men­ta­ris­mus und des Pseu­do­bol­sche­wis­mus. Wäh­rend die alten bür­ger­li­chen Par­tei­en sich rest­los ver­aus­gab­ten, war zugleich die Bewe­gungs­kraft der Arbei­ter gebrochen.

Das Nach­kriegs­cha­os traf die Hand­wer­ker, Krä­mer und Ange­stell­ten nicht weni­ger hef­tig als die Arbei­ter. Die Land­wirt­schafts­kri­se rich­te­te die Bau­ern zugrun­de. Der Ver­fall der Mit­tel­schich­ten konn­te nicht ihre Pro­le­ta­ri­sie­rung bedeu­ten, da ja im Pro­le­ta­ri­at selbst ein rie­si­ges Heer chro­nisch Arbeits­lo­ser ent­stand. Die Pau­pe­ri­sie­rung der Mit­tel­schich­ten – mit Mühe durch Hals­tuch und Strümp­fe aus Kunst­sei­de ver­hüllt – fraß allen offi­zi­el­len Glau­ben und vor allem die Leh­ren vom demo­kra­ti­schen Parlamentarismus.

Die Viel­zahl der Par­tei­en, das kal­te Fie­ber der Wah­len, der fort­wäh­ren­de Wech­sel der Minis­te­ri­en kom­pli­zier­ten die sozia­le Kri­se durch das Kalei­do­skop unfrucht­ba­rer poli­ti­scher Kom­bi­na­tio­nen. In der durch Krieg, Nie­der­la­ge, Repa­ra­tio­nen, Infla­ti­on, Ruhr­be­set­zung, Kri­se, Not und Erbit­te­rung über­hitz­ten Atmo­sphä­re erhob sich das Klein­bür­ger­tum gegen alle alten Par­tei­en, die es betro­gen hat­ten. Die schwe­ren Frus­tra­tio­nen der Klein­ei­gen­tü­mer, die aus dem Bank­rott nicht her­aus­ka­men, ihrer stu­dier­ten Söh­ne ohne Stel­lung und Kli­en­ten, ihrer Töch­ter ohne Aus­steu­er und Frei­er, ver­lang­ten nach Ord­nung und nach einer eiser­nen Hand.

Die Fah­ne des Natio­nal­so­zia­lis­mus wur­de erho­ben von der unte­ren und mitt­le­ren Offi­ziers­schicht des alten Hee­res. Die orden­ge­schmück­ten Offi­zie­re und Unter­of­fi­zie­re konn­ten nicht dar­in ein­wil­li­gen, daß ihr Hero­is­mus und ihre Lei­den nicht allein fürs Vater­land umsonst hin­ge­ge­ben sein, son­dern auch ihnen selbst kei­ne beson­de­ren Rech­te auf Dank gebracht haben soll­ten; daher stammt ihr Haß gegen die Revo­lu­ti­on und das Pro­le­ta­ri­at. Sie waren unzu­frie­den damit, daß die Ban­kiers, Fabri­kan­ten, Minis­ter sie wie­der in die beschei­de­nen Stel­lun­gen von Buch­hal­tern, Inge­nieu­ren, Post­be­am­ten und Volks­schul­leh­rern schick­ten – daher ihr „Sozia­lis­mus“. An der Yser und vor Ver­dun hat­ten sie gelernt, sich und ande­re aufs Spiel zu set­zen und im Kom­man­do­ton zu reden, was dem klei­nen Mann im Hin­ter­land mäch­tig impo­nier­te. So wur­den die­se Leu­te Führer.

Zu Beginn sei­ner poli­ti­schen Lauf­bahn zeich­ne­te sich Hit­ler viel­leicht nur durch grö­ße­res Tem­pe­ra­ment, eine lau­te­re Stim­me und selbst­si­che­re geis­ti­ge Beschränkt­heit aus. Er brach­te in die Bewe­gung kei­ner­lei fer­ti­ges Pro­gramm mit – wenn man den Rache­durst des gekränk­ten Sol­da­ten nicht zählt. Hit­ler begann mit Ver­wün­schun­gen und Kla­gen über die Ver­sailler Bedin­gun­gen, über das teu­re Leben, über das Feh­len des Respekts vor dem ver­dien­ten Unter­of­fi­zier, über das Trei­ben der Ban­kiers und Jour­na­lis­ten mosai­schen Bekennt­nis­ses. Her­un­ter­ge­kom­me­ne, Ver­arm­te, Leu­te mit Schram­men und fri­schen blau­en Fle­cken fan­den sich genug. Jeder von ihnen woll­te mit der Faust auf den Tisch hau­en. Hit­ler ver­stand das bes­ser als die ande­ren. Zwar wuß­te er nicht, wie der Not bei­zu­kom­men sei. Aber sei­ne Ankla­gen klan­gen bald wie Befehl, bald wie Gebet, gerich­tet an das ungnä­di­ge Schick­sal. Tod­ge­weih­te Klas­sen wer­den – ähn­lich hoff­nungs­lo­sen Kran­ken – nicht müde, ihre Kla­gen zu vari­ie­ren und Trös­tun­gen anzu­hö­ren. Alle Reden Hit­lers sind auf die­sen Ton gestimmt. Sen­ti­men­ta­le Form­lo­sig­kei­ten, Man­gel an Dis­zi­plin des Den­kens, Unwis­sen­heit bei bunt­sche­cki­ger Bele­sen­heit – all die­se Minus ver­wan­del­ten sich in ein Plus. Sie gaben ihm die Mög­lich­keit, im Bet­tel­sack „Natio­nal­so­zia­lis­mus“ alle For­men der Unzu­frie­den­heit zu ver­ei­nen und die Mas­se dort­hin zu füh­ren, wohin sie ihn stieß. Von den eige­nen Impro­vi­sa­tio­nen des Beginns blieb im Gedächt­nis des Agi­ta­tors nur das haf­ten, was Bil­li­gung fand. Sei­ne poli­ti­schen Gedan­ken waren die Frucht der rhe­to­ri­schen Akus­tik. So ging die Aus­wahl der Losun­gen von­stat­ten. So ver­dich­te­te sich das Pro­gramm. So bil­de­te sich aus dem Roh­stoff der „Füh­rer“.

Mus­so­li­ni war von Anfang an der sozia­len Mate­rie bewuß­ter als Hit­ler, dem der Poli­zei­mys­ti­zis­mus eines Met­ter­nich näher ist als die poli­ti­sche Alge­bra Machia­vel­lis. Mus­so­li­ni ist geis­tig ver­we­ge­ner und zyni­scher. Als Beweis dürf­te genü­gen, daß der römi­sche Athe­ist sich der Reli­gi­on ledig­lich bedient wie der Poli­zei oder der Jus­tiz, wäh­rend sein Ber­li­ner Kol­le­ge wirk­lich an die Unfehl­bar­keit der römi­schen Kir­che glaubt. In jener Zeit, als der heu­ti­ge Dik­ta­tor Ita­li­ens Marx noch für „unser aller unsterb­li­chen Meis­ter“ hielt, ver­tei­dig­te er nicht ohne Geschick die Theo­rie, die im Leben der heu­ti­gen Gesell­schaft vor allem das Gegen­ein­an­der­wir­ken zwei­er grund­le­gen­der Klas­sen sieht: der Bour­geoi­sie und des Pro­le­ta­ri­ats. Aller­dings, schrieb Mus­so­li­ni im Jah­re 1914, lie­gen zwi­schen ihnen sehr zahl­rei­che Mit­teil­schich­ten, die sozu­sa­gen das „eini­gen­de Gewe­be der mensch­li­chen Kol­lek­ti­ve“ bil­den, aber „in einer Kri­sen­pe­ri­ode wer­den die Mit­tel­schich­ten ihren Inter­es­sen und Ideen gemäß ange­zo­gen von der einen oder der ande­ren der bei­den Haupt­klas­sen“. Eine sehr wich­ti­ge Ver­all­ge­mei­ne­rung! Wie die wis­sen­schaft­li­che Medi­zin ihre Adep­ten sowohl mit der Mög­lich­keit aus­rüs­tet, einen Kran­ken zu hei­len, als auch mit jener, auf kür­zes­tem Wege einen Gesun­den ins Grab zu legen, so hat die wis­sen­schaft­li­che Ana­ly­se der Klas­sen­be­zie­hun­gen – die von ihrem Urhe­ber zur Mobi­li­sie­rung des Pro­le­ta­ri­ats gedacht war – Mus­so­li­ni, als er ins geg­ne­ri­sche Lager schwenk­te, die Mög­lich­keit gege­ben, die Mit­tel­klas­sen gegen das Pro­le­ta­ri­at zu mobi­li­sie­ren. Hit­ler hat die glei­che Arbeit ver­rich­tet, wobei er die Metho­do­lo­gie des ita­lie­ni­schen Faschis­mus in die Spra­che der deut­schen Mys­tik übersetzte.

Die Schei­ter­hau­fen, auf denen die ver­ruch­ten Schrif­ten des Mar­xis­mus bren­nen, wer­fen hel­les Licht auf die Klas­sen­na­tur des Natio­nal­so­zia­lis­mus. Solan­ge die Nazis als Par­tei han­del­ten und nicht als Staats­macht, fan­den sie fast kei­nen Ein­gang in die Arbei­ter­klas­se. Ande­rer­seits betrach­te­te sie die Groß­bour­geoi­sie – auch jene, die Hit­ler mit Geld unter­stütz­te – nicht als ihre Par­tei. Das natio­na­le „Erwa­chen“ stütz­te sich ganz und gar auf die Mit­tel­klas­sen, den rück­stän­digs­ten Teil der Nati­on, den schwe­ren Bal­last der Geschich­te. Die poli­ti­sche Kunst bestand dar­in, das Klein­bür­ger­tum durch Feind­se­lig­keit gegen das Pro­le­ta­ri­at zusam­men­zu­schwei­ßen. Was wäre zu tun, damit alles bes­ser wer­de? Vor allem die nie­der­drü­cken, die unten sind. Kraft­los vor den gro­ßen Wirt­schafts­mäch­ten hofft das Klein­bür­ger­tum, durch die Zer­trüm­me­rung der Arbei­ter­or­ga­ni­sa­tio­nen sei­ne gesell­schaft­li­che Wür­de wiederherzustellen.

Die Nazis geben ihrem Umsturz den usur­pier­ten Namen Revo­lu­ti­on. In Wirk­lich­keit läßt der Faschis­mus in Deutsch­land wie auch in Ita­li­en die Gesell­schafts­ord­nung unan­ge­tas­tet. Hit­lers Umsturz hat, iso­liert betrach­tet, nicht ein­mal Recht auf den Namen Kon­ter­re­vo­lu­ti­on. Aber man darf ihn nicht abge­son­dert sehen, er ist die Voll­endung des Kreis­laufs von Erschüt­te­run­gen, der in Deutsch­land 1918 begann. Die Novem- ber­re­vo­lu­ti­on, die die Macht den Arbei­ter- und Sol­da­ten­rä­ten über­gab, war in ihrer Grund­ten­denz pro­le­ta­risch. Doch die an der Spit­ze der Arbei­ter­schaft ste­hen­de Par­tei gab die Macht dem Bür­ger­tum zurück. In die­sem Sin­ne eröff­ne­te die Sozi­al­de­mo­kra­tie die Ära der Kon­ter­re­vo­lu­ti­on, ehe es der Revo­lu­ti­on gelang, ihr Werk zu voll­enden. Solan­ge die Bour­geoi­sie von der Sozi­al­de­mo­kra­tie und folg­lich von den Arbei­tern abhän­gig war, ent­hielt das Regime aber immer noch Ele­men­te des Kom­pro­mis­ses. Bald ließ die inter­na­tio­na­le und die inne­re Lage des deut­schen Kapi­ta­lis­mus kei­nen Raum mehr für Zuge­ständ­nis­se. Ret­te­te die Sozi­al­de­mo­kra­tie die Bour­geoi­sie vor der pro­le­ta­ri­schen Revo­lu­ti­on, so hat­te der Faschis­mus sei­ner­seits die Bour­geoi­sie vor der Sozi­al­de­mo­kra­tie zu ret­ten. Hit­lers Umsturz ist nur das Schluß­glied in der Ket­te der kon­ter- revo­lu­tio­nä­ren Verschiebungen.

Der Klein­bür­ger ist dem Ent­wick­lungs­ge­dan­ken feind, denn die Ent­wick­lung geht bestän­dig gegen ihn – der Fort­schritt brach­te ihm nichts als unbe­zahl­ba­re Schul­den. Der Natio­nal­so­zia­lis­mus lehnt nicht nur den Mar­xis­mus, son­dern auch den Dar­wi­nis­mus ab. Die Nazis ver­flu­chen den Mate­ria­lis­mus, weil die Sie­ge der Tech­nik über die Natur den Sieg des gro­ßen über das klei­ne Kapi­tal bedeu­ten. Die Füh­rer der Bewe­gung liqui­die­ren den „Intel­lek­tua­lis­mus“ nicht so sehr des­halb, weil sie selbst mit einem Intel­lekt zwei­ter und drit­ter Sor­te ver­se­hen sind, son­dern vor allem, weil ihre geschicht­li­che Rol­le es ihnen nicht gestat­tet, irgend­ei­nen Gedan­ken zu Ende zu füh­ren. Der Klein­bür­ger braucht eine höchs­te Instanz, die über Natur und Geschich­te steht, gefeit gegen Kon­kur­renz, Infla­ti­on, Kri­se und Ver­stei­ge­rung. Der Evo­lu­ti­on, dem „öko­no­mi­schen Den­ken“, dem Ratio­na­lis­mus – dem zwan­zigs­ten, neun­zehn­ten und acht­zehn­ten Jahr­hun­dert – wird der natio­na­le Idea­lis­mus als die Quel­le des Hel­di­schen ent­ge­gen­ge­stellt. Die Nati­on Hit­lers ist ein mytho­lo­gi­scher Schat­ten des Klein­bür­ger­tums selbst, sein pathe­ti­scher Wahn vom tau­send­jäh­ri­gen Reich auf Erden.

Um die Nati­on über die Geschich­te zu erhe­ben, gab man ihr als Stüt­ze die Ras­se. Den geschicht­li­chen Ablauf betrach­tet man als Emana­ti­on [Aus­fluss] der Ras­se. Die Eigen­schaf­ten der Ras­se wer­den ohne Bezug auf die ver­än­der­li­chen gesell­schaft­li­chen Bedin­gun­gen kon­stru­iert. Das nied­ri­ge „öko­no­mi­sche Den­ken“ ableh­nend, steigt der Natio­nal­so­zia­lis­mus ein Stock­werk tie­fer, gegen den wirt­schaft­li­chen Mate­ria­lis­mus beruft er sich auf den zoologischen.

Die Ras­sen­theo­rie – wie beson­ders geschaf­fen für einen anspruchs­vol­len Auto­di­dak­ten, der nach einem Uni­ver­sal­schlüs­sel für alle Geheim­nis­se des Lebens sucht – sieht im Licht der Ideen­ge­schich­te beson­ders kläg­lich aus. Die Reli­gi­on des rein Ger­ma­ni­schen muß­te Hit­ler aus zwei­ter Hand beim fran­zö­si­schen Diplo­ma­ten und dilet­tie­ren­den Schrift­stel­ler Gobi­neau ent­leh­nen. Die poli­ti­sche Metho­do­lo­gie fand Hit­ler fer­tig bei den Ita­lie­nern vor. Mus­so­li­ni hat sich aus­gie­big der Marx­schen Theo­rie des Klas­sen­kampfs bedient. Der Mar­xis­mus selbst war die Frucht einer Ver­bin­dung deut­scher Phi­lo­so­phie, fran­zö­si­scher Geschichts­schrei­bung und eng­li­scher Öko­no­mie. In der Ge- nea­lo­gie der Ideen – selbst der rück­schritt­lichs­ten und stumpf­sin­nigs­ten – fin­det sich vom Ras­sis­mus kei­ne Spur.

Die Arm­se­lig­keit der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Phi­lo­so­phie hat die Uni­ver­si­täts­pro­fes­so­ren selbst­ver­ständ­lich nicht gehin­dert, mit vol­len Segeln in Hit­lers Fahr­was­ser ein­zu­len­ken – als sein Sieg außer Fra­ge stand. Die Jah­re der Wei­ma­rer Ord­nung waren für die Mehr­heit des Pro­fes­so­ren­pö­bels eine Zeit der Ver­wir­rung und Unru­he. Die His­to­ri­ker, Öko­no­men, Juris­ten und Phi­lo­so­phen ergin­gen sich in Ver­mu­tun­gen dar­über, wel­ches der ein­an­der bekämp­fen­den Wahr­heits­kri­te­ri­en das ech­te sei, das heißt, wel­ches Lager sich zu guter Letzt als Sie­ger erwei­sen wer­de. Die faschis­ti­sche Dik­ta­tur besei­tigt die Zwei­fel der Fäus­te und das Schwan­ken der Ham­lets auf dem Uni­ver­si­täts­ka­the­der. Aus der Däm­me­rung der par­la­men­ta­ri­schen Rela­ti­vi­tät tritt die Wis­sen­schaft wie­der­um in das Reich des Abso­lu­ten ein. Ein­stein muß­te Deutsch­land verlassen.

Auf der Ebe­ne der Poli­tik ist der Ras­sis­mus eine auf­ge­bla­se­ne und prah­le­ri­sche Abart des Chau­vi­nis­mus, gepaart mit Schä­del­leh­re. Wie her­ab­ge­kom­me­ner Adel Trost fin­det in der alten Abkunft sei­nes Bluts, so besäuft sich das Klein­bür­ger­tum am Mär­chen von den beson­de­ren Vor­zü­gen sei­ner Ras­se. Es ver­dient Beach­tung, daß die Füh­rer des Natio­nal­so­zia­lis­mus nicht ger­ma­ni­sche Deut­sche sind, son­dern Zuge­wan­der­te: aus Öster­reich, wie Hit­ler selbst, aus den ehe­ma­li­gen bal­ti­schen Pro­vin­zen des Zaren­reichs, wie Rosen­berg, aus den Kolo­ni­al­län­dern, wie der augen­blick­li­che Stell­ver­tre­ter Hit­lers in der Par­tei­lei­tung, Heß, und der neue Minis­ter Dar­ré. Es bedurf­te der Schu­le bar­ba­ri­scher natio­na­ler Bal­ge­rei in den kul­tu­rel­len Rand­ge­bie­ten, um den Füh­rern die Gedan­ken ein­zu­flö­ßen, die spä­ter ein Echo im Her­zen der bar­ba­rischs­ten Klas­sen Deutsch­lands fanden.

Die Per­sön­lich­keit und die Klas­se – der Libe­ra­lis­mus und der Mar­xis­mus – sind das Böse. Die Nati­on ist das Gute. Doch an der Schwel­le des Eigen­tums ver­kehrt sich die­se Phi­lo­so­phie ins Gegen­teil. Nur im per­sön­li­chen Eigen­tum liegt das Heil. Der Gedan­ke des natio­na­len Eigen­tums ist eine Aus­ge­burt des Bol­sche­wis­mus. Obwohl er die Nati­on ver­got­tet, will der Klein­bür­ger ihr doch nichts schen­ken. Im Gegen­teil erwar­tet er, daß die Nati­on ihm selbst Besitz beschert und die­sen dann gegen Arbei­ter und Gerichts­voll­zie­her in Schutz nimmt.

Vor dem Hin­ter­grund des heu­ti­gen Wirt­schafts­le­bens – inter­na­tio­nal in den Ver­bin­dun­gen, unper­sön­lich in den Metho­den – scheint das Ras­sen­prin­zip einem mit­tel­al­ter­li­chen Ideen­fried­hof ent­stie­gen. Die Nazis machen im Vor­aus Zuge­ständ­nis­se: Im Reich des Geis­tes wird Ras­sen­ein­heit durch den Paß beschei­nigt, im Reich der Wirt­schaft aber muß sie sich durch Geschäfts­tüch­tig­keit aus­wei­sen. Unter heu­ti­gen Bedin­gun­gen heißt das: durch Kon­kur­renz­fä­hig­keit. So kehrt der Ras­sis­mus durch die Hin­ter­tür zum öko­no­mi­schen Libe­ra­lis­mus – ohne poli­ti­sche Frei­hei­ten – zurück.

Prak­tisch beschränkt sich der Natio­na­lis­mus in der Wirt­schaft auf – trotz aller Bru­ta­li­tät – ohn­mäch­ti­ge Aus­brü­che von Anti­se­mi­tis­mus. Vom heu­ti­gen Wirt­schafts­sys­tem son­dern die Nazis das raf­fen­de oder Bank­ka­pi­tal als den bösen Geist ab; gera­de in die­ser Sphä­re nimmt ja die jüdi­sche Bour­geoi­sie einen bedeu­ten­den Platz ein. Wäh­rend er sich vor dem kapi­ta­lis­ti­schen Sys­tem ver­beugt, bekriegt der Klein­bür­ger den bösen Geist des Pro­fits in Gestalt des pol­ni­schen Juden im lang­schö­ßi­gen Kaf­tan, der oft kei­nen Gro­schen in der Tasche hat. Der Pogrom wird zum Beweis ras­si­scher Überlegenheit.

Das Pro­gramm, mit dem der Natio­nal­so­zia­lis­mus an die Macht gelang­te, erin­nert nur zu sehr an die jüdi­schen Waren­häu­ser der fins­te­ren Pro­vinz. Was fin­det man dort nicht alles zu nied­ri­gem Preis und in noch nied­ri­ge­rer Qua­li­tät. Die Erin­ne­rung an die „glück­li­chen“ Zei­ten der frei­en Kon­kur­renz und die vage Über­lie­fe­rung von der Sta­bi­li­tät der Stän­de­ge­sell­schaft, Träu­me von der Auf­er­ste­hung des Kolo­ni­al­reichs und den Wahn von einer geschlos­se­nen Wirt­schaft, Phra­sen über eine Rück­kehr vom römi­schen zum alt­deut­schen Recht und über die Befür­wor­tung des ame­ri­ka­ni­schen Mora­to­ri­ums, nei­di­sche Feind­schaft gegen die Ungleich­heit in Gestalt einer Vil­la und eines Autos und tie­ri­sche Furcht vor der Gleich­heit in Gestalt des Arbei­ters mit Müt­ze und ohne Kra­gen, toben­den Natio­na­lis­mus und Angst vor den Welt­gläu­bi­gern – all die­ser inter­na­tio­na­le Aus­wurf poli­ti­scher Gedan­ken füllt die geis­ti­ge Schatz­kam­mer des neu­deut­schen Messianismus.

Der Faschis­mus ent­deck­te den Boden­satz der Gesell­schaft für die Poli­tik. Nicht nur in den Bau­ern­häu­sern, son­dern auch in den Wol­ken­krat­zern der Städ­te lebt neben dem zwan­zigs­ten Jahr­hun­dert heu­te noch das zehn­te oder drei­zehn­te. Hun­der­te Mil­lio­nen Men­schen benut­zen den elek­tri­schen Strom, ohne auf­zu­hö­ren, an die magi­sche Kraft von Ges­ten und Beschwö­run­gen zu glau­ben. Der römi­sche Papst pre­digt durchs Radio vom Wun­der der Ver­wand­lung des Was­sers in Wein. Kino­stars lau­fen zur Wahr­sa­ge­rin. Flug­zeug­füh­rer, die wun­der­ba­re, vom Genie des Men­schen erschaf­fe­ne Mecha­nis­men len­ken, tra­gen unter dem Swea­ter Amu­let­te. Was für uner­schöpf­li­che Vor­rä­te an Fins­ter­nis, Unwis­sen­heit, Wild­heit! Die Ver­zweif- lung hat sie auf die Bei­ne gebracht, der Faschis­mus wies ihnen die Rich­tung. All das, was bei unge­hin­der­ter Ent­wick­lung der Gesell­schaft vom natio­na­len Orga­nis­mus als Kul­tur­ex­kre­ment aus­ge­schie­den wer­den muß­te, kommt jetzt durch den Schlund hoch; die kapi­ta­lis­ti­sche Zivi­li­sa­ti­on erbricht die unver­dau­te Bar­ba­rei. Das ist die Phy­sio­lo­gie des Nationalsozialismus.

Der deut­sche wie der ita­lie­ni­sche Faschis­mus stie­gen zur Macht über den Rücken des Klein­bür­ger­tums, das sie zu einem Ramm­bock gegen die Arbei­ter­klas­se und die Ein­rich­tun­gen der Demo­kra­tie zusam­men­preß­ten. Aber der Faschis­mus, ein­mal an der Macht, ist alles ande­re als eine Regie­rung des Klein­bür­ger­tums. Mus­so­li­ni hat recht, die Mit­tel­klas­sen sind nicht fähig zu selb­stän­di­ger Poli­tik. In Peri­oden gro­ßer Kri­sen sind sie beru­fen, die Poli­tik einer der bei­den Haupt­klas­sen bis zur Absur­di­tät zu trei­ben. Dem Faschis­mus gelang es, sie in den Dienst des Kapi­tals zu stel­len. Sol­che Lösun­gen wie die Ver­staat­li­chung der Trusts und die Abschaf­fung des „arbeits- und mühe­lo­sen Ein­kom­mens“ waren nach Über­nah­me der Macht mit einem Mal über Bord gewor­fen. Der Par­ti­ku­la­ris­mus der deut­schen Län­der, der sich auf die Eigen­ar­ten des Klein­bür­ger­tums stütz­te, hat dem poli­zei­li­chen Zen­tra­lis­mus Platz gemacht, den der moder­ne Kapi­ta­lis­mus braucht. Jeder Erfolg der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Innen- und Außen­po­li­tik wird unver­meid­lich Erdrü­ckung des klei­nen Kapi­tals durch das gro­ße bedeuten.

Das Pro­gramm der klein­bür­ger­li­chen Illu­sio­nen wird dabei nicht abge­schafft, es wird ein­fach von der Wirk­lich­keit abge­trennt und in Ritu­al­hand­lun­gen auf­ge­löst. Die Ver­ei­ni­gung aller Klas­sen läuft hin­aus auf die Halb­sym­bo­lik der Arbeits­dienst­pflicht und die Beschlag­nah­me des Arbei­ter­fei­er- tags „zuguns­ten des Vol­kes“. Die Bei­be­hal­tung der goti­schen Schrift im Gegen­satz zur latei­ni­schen ist eine sym­bo­li­sche Ver­gel­tung – für das Joch des Welt­markts. Die Abhän­gig­keit von den inter­na­tio­na­len – dar­un­ter auch jüdi­schen – Ban­kiers ist nicht um ein Jota gemil­dert, dafür ist es ver­bo­ten, Tie­re nach dem Tal­mud­ri­tu­al zu schlach­ten. Ist der Weg zur Höl­le mit guten Vor­sät­zen gepflas­tert, so sind die Stra­ßen des Drit­ten Rei­ches mit Sym­bo­len ausgelegt.

Indem er das Pro­gramm der klein­bür­ger­li­chen Illu­sio­nen auf elen­de büro­kra­ti­sche Mas­ke­ra­den redu­ziert, erhebt sich der Natio­nal­so­zia­lis­mus über die Nati­on als reins­te Ver­kör­pe­rung des Impe­ria­lis­mus. Die Hoff­nung dar­auf, daß die Hit­ler­re­gie­rung heu­te oder mor­gen als Opfer ihres inne­ren Bank- rotts fal­len wer­de, ist völ­lig ver­geb­lich. Das Pro­gramm war für die Nazis nötig, um an die Macht zu kom­men, aber die Macht dient Hit­ler durch­aus nicht dazu, das Pro­gramm zu erfül­len. Die gewalt­sa­me Zusam­men­fas­sung aller Kräf­te und Mit­tel des Vol­kes im Inter­es­se des Impe­ria­lis­mus – die wah­re geschicht­li­che Sen­dung der faschis­ti­schen Dik­ta­tur – bedeu­tet die Vor­be­rei­tung des Krie­ges; die­se Auf­ga­be dul­det kei­ner­lei Wider- stand von innen und führt zur wei­te­ren mecha­ni­schen Zusam­men­bal­lung der Macht. Den Faschis­mus kann man weder refor­mie­ren noch zum Abtre­ten bewe­gen. Ihn kann man nur stür­zen. Der poli­ti­sche Weg der Nazi­herr­schaft führt zur Alter­na­ti­ve Krieg oder Revo­lu­ti­on. Der ers­te Jah­res­tag der Nazi­dik­ta­tur steht bevor. Alle Ten­den­zen des Regimes haben sich inzwi­schen klar und deut­lich ent­fal­ten kön­nen. Die „sozia­lis­ti­sche“ Revo­lu­ti­on, die den klein­bür­ger­li­chen Mas­sen die unent­behr­li­che Ergän­zung der „natio­na­len“ schien, wur­de offi­zi­ell ver­dammt und liqui­diert. Die Klas­sen­ver­brü­de­rung gip­felt dar­in, daß – an einem eigens von der Regie­rung bestimm­ten Tage – die Rei­chen zuguns­ten der Armen auf Vor- und Nach­tisch ver­zich­ten. Der Kampf gegen die Arbeits­lo­sig­keit hat dazu geführt, daß man die hal­be Hun­ger­ra­ti­on noch ein- mal teilt. Alles übri­ge ist Pro­dukt der mani­pu­lier­ten Sta­tis­tik. Die „geplan­te“ Aut­ar­kie erweist sich als ein neu­es Sta­di­um wirt­schaft­li­chen Zerfalls.

Je weni­ger das Poli­zei­re­gime der Nazis öko­no­misch leis­tet, des­to grö­ße­re Anstren­gun­gen muß es auf außen­po­li­ti­schem Gebiet unter­neh­men. Dies ent­spricht völ­lig der inne­ren Dyna­mik des durch und durch aggres­si­ven deut­schen Kapi­tals. Das Umschwen­ken der Nazi­füh­rer auf Frie­dens­de­kla­ra­tio­nen kann nur Dumm­köp­fe irre­füh­ren. Hit­ler hat kein ande­res Mit­tel, die Schuld an inne­ren Schwie­rig­kei­ten auf äuße­re Fein­de abzu­wäl­zen und die Spreng­kraft des Impe­ria­lis­mus unter dem Druck der Dik­ta­tur zu steigern.

Die­ser Teil des Pro­gramms, der noch vor der Macht­er­grei­fung der Nazis offen ange­kün­digt wur­de, rea­li­siert sich jetzt mit eiser­ner Logik vor den Augen der gan­zen Welt. Die Zeit, die uns bis zur nächs­ten euro­päi­schen Kata­stro­phe bleibt, ist befris­tet durch die deut­sche Auf­rüs­tung. Das ist kei­ne Fra­ge von Mona­ten, aber auch kei­ne von Jahr­zehn­ten. Wird Hit­ler nicht recht­zei­tig durch inner­deut­sche Kräf­te auf­ge­hal­ten, so wird Euro­pa in weni­gen Jah­ren neu­er­lich in Krieg gestürzt.

Prin­ki­po (Büyük Ada), 10. Juni 1933

Aus Theo­rie­bei­la­ge Avan­ti² Rhein-Neckar Mai 2024
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