Die Bauern und die Revolution
Manuel Kellner
Eine der vielen Lügen der Stalinschen Fälscherschule ist die Behauptung gewesen, Trotzki habe die „Bauernfrage“ unterschätzt. In Wirklichkeit steht in Trotzkis Schrift Ergebnisse und Perspektiven (der russischen Revolution nach 1905) das Gegenteil.
Schon 1906 war es Trotzkis Meinung nach entscheidend, die Aufgaben der bürgerlichen Revolution zu lösen. In deren Mittelpunkt stand die Agrarreform, das heißt die Befreiung der bäuerlichen Bevölkerungsmehrheit aus den halbfeudalen Verhältnissen Russlands.
Welche der beiden völlig entgegengesetzten Gesellschaftsklassen konnte diese Frage lösen und den Bauern das Land geben? Aus Trotzkis wie aus Lenins Sicht war das russische Bürgertum dazu nicht in der Lage. Das Proletariat, die ArbeiterInnenklasse, konnte und musste dieses Problem im Bündnis mit der Bauernschaft lösen.
Im Gegensatz zu Lenins Position bis April 1917 war Trotzki allerdings außerdem der Meinung, dass die ArbeiterInnenklasse zusammen mit den ärmsten Schichten der Bauernschaft dafür die politische Macht erobern musste. Ferner hatte sie einen – nationalen wie internationalen – Prozess der „permanenten Revolution“ auszulösen. Dazu sollten auch erste „sozialistische Maßnahmen“ im eigenen Interesse gehören.
Umgekehrt würde die russische ArbeiterInnenklasse die politische Macht niemals erobern können, ohne sich auf die bäuerliche Bevölkerungsmehrheit und deren Kampf gegen Großgrundbesitzer, Kirchen- und Klostereigentum zu stützen.
Agrarfrage – Fundament der Revolution
Das Kapitel über „Die Bauernschaft“ in Trotzkis Geschichte der russischen Revolution beginnt mit dem Satz: „Das Fundament der Revolution bildete die Agrarfrage“. Nach der Februarrevolution 1905 war es auf dem Lande zunächst verhältnismäßig ruhig geblieben. Die jungen Männer waren als Soldaten an der Front, die älteren erinnerten sich an furchtbare Strafexpeditionen. Doch ab März zeigten sich die ersten Erscheinungen eines Bauernkrieges.
Die bürgerlichen Kräfte und die ihnen beipflichtenden „gemäßigten“ SozialistInnen warnten davor, die Agrarfrage zu schnell aufzuwerfen – aus Angst davor, die Bauernbewegung könnte aus dem Ruder laufen.
Erste handfeste Konflikte ergaben sich daraus, dass die Gutsbesitzer die Frühjahrsaussaat zurückhielten – obwohl der Boden angesichts der schwierigen Ernährungslage nach Bebauung schrie. Außerdem begannen die Gutsbesitzer aus Angst vor Enteignungen, ihre Güter zu liquidieren, indem sie sie an reiche Bauern – Kulaken – verkauften, die ihrer Meinung nach eher vor Enteignungen verschont würden.
Die Formen, die der bäuerliche Kampf annahm, wurden im Lauf der Monate immer radikaler. Zu Anfang dominierte der Wunsch, die Konflikte nicht zuzuspitzen, sondern die Großgrundbesitzer durch Argumente und gute Worte zu überzeugen.
Der allrussische Bauernkongress in Petrograd im Mai 1917 drückte noch die gemäßigten Stimmungen aus. Wie meist bei repräsentativen Körperschaften blieb er hinter dem sich rasant entwickelnden Bewusstsein an der Basis zurück. Der rechte Flügel der Sozialrevolutionäre gab dort den Ton an.
Trotzdem forderte dieser Kongress immerhin: „Übergang des gesamten Bodens in den Besitz des Volkes zur ausgleichenden werktätigen Benutzung ohne jegliche Ablösung.“ Diese Formel bedeutete für die Großbauern ihre Gleichstellung mit den Großgrundbesitzern. Von den kleinen Bauernfamilien und den LandarbeiterInnen wurde sie aber radikal demokratisch interpretiert. Dieses „kleine Missverständnis“, kommentiert Trotzki, würde sich erst in „der Zukunft“ auflösen. Ohne dies wäre der Oktoberumsturz nicht denkbar gewesen.