Soli­da­ri­tät mit der Pro­test­be­we­gung im Iran

Erklä­rung des Exe­ku­tiv­bü­ros der IV. Internationale

(vom 18. Okto­ber 2022)

 

Seit dem 16. Sep­tem­ber wird der Iran durch brei­te Pro­tes­te gegen die Poli­tik der herr­schen­den Cli­que in Auf­ruhr ver­setzt. Aus­lö­ser war der bru­ta­le Mord an der jun­gen Frau  Jîna (Mah­sa) Ami­ni, die von der „Sit­ten­po­li­zei“ zu Tode geprü­gelt wur­de. Die Dau­er und die Aus­deh­nung der Demons­tra­tio­nen auf alle Lan­des­tei­le und fast alle Bevöl­ke­rungs­schich­ten zeu­gen von einer tief­sit­zen­den Unzu­frie­den­heit und Wut, die nicht nur in der Ableh­nung der Klei­der­ord­nung für Frau­en begrün­det ist. Die Ursa­chen lie­gen auch in einer seit Jah­ren sich zuspit­zen­den Not für wei­te Bevöl­ke­rungs­tei­le und in einer mas­si­ven poli­ti­schen Unterdrückung.

Solidarität mit der Protestbewegung im Iran (Erklärung Exekutivbüro der IV. Internationale)

Soli­da­ri­tät mit der Pro­test­be­we­gung im Iran (Erklä­rung Exe­ku­tiv­bü­ro der IV. Internationale)

Anders als bei frü­he­ren Unru­hen, etwa gegen Wahl­be­trug (2009) oder gegen stei­gen­de Treib­stoff­prei­se (2019), steht heu­te der Ruf im Vor­der­grund: „Nie­der mit der Isla­mi­schen Repu­blik!“ Nach einem Monat der Pro­tes­te hält die Bewe­gung stand und brei­tet sich aus.

Im Ver­gleich zu den ver­gan­ge­nen Jahr­zehn­ten ist die sozia­le Not in der Bevöl­ke­rung heu­te noch grö­ßer. Mehr als die Hälf­te der Bevöl­ke­rung lebt unter­halb des Exis­tenz­mi­ni­mums und über­lebt nur mit gro­ßen Schwie­rig­kei­ten. Die Gesund­heits­ver­sor­gung ist noch schlech­ter gewor­den als sie ohne­hin schon war. Die öko­lo­gi­schen Schä­den sind enorm: Was­ser­knapp­heit, Wüs­ten­bil­dung und Ent­wal­dung tref­fen vor allem die Land­be­völ­ke­rung, und in den Städ­ten ist die Luft- und Was­ser­ver­schmut­zung hoch.

Auf­fal­lend und begeis­ternd ist, dass die Bewe­gung von jun­gen Frau­en, auch von Schü­le­rin­nen, ange­führt wird. Dies erklärt sich durch die Geschich­te der Frau­en­kämp­fe und -bewe­gun­gen im Iran seit den Tagen vor der Revo­lu­ti­on von 1979. Die Unter­stüt­zung der Bevöl­ke­rung beruht auf einem inzwi­schen weit ver­brei­te­ten Hass auf das Regime und die kor­rup­te theo­kra­ti­sche Cli­que, die das Land beherrscht und aus­beu­tet und sich dar­über zu Dol­lar-Mil­li­ar­dä­ren gemacht hat.

Die Tat­sa­che, dass die Bewe­gung trotz der har­ten Repres­si­on so lan­ge und so breit anhält, lässt sich nur durch die Wut erklä­ren, die vor allem die jün­ge­ren Gene­ra­tio­nen emp­fin­den. Wei­te Tei­le der Stu­die­ren­den und Schüler*innen weh­ren sich gegen ihre Kaser­nie­rung und gehen für ein ande­res Leben auf die Straße.

Die zwei­te Beson­der­heit der heu­ti­gen Pro­test­wel­le ist, dass sie sich von Jîna (Mah­sa) Ami­nis Hei­mat­stadt in Kur­di­stan über das gan­ze Land aus­ge­brei­tet hat. Des­halb ist der kur­di­sche Ruf „Jin Jiyan Azadi“, der ins Per­si­sche mit „Zan Zen­de­gi Azadi“ über­setzt wird, heu­te zur wich­tigs­ten Losung der Bewe­gung gewor­den. In Kur­di­stan haben die Ableh­nung des theo­kra­ti­schen Regimes und der Kampf um Selbst­be­stim­mung eine lan­ge Tra­di­ti­on und tre­ten jetzt mit Macht her­vor. Neu ist das Aus­maß der Pro­tes­te in Belut­schi­stan, wo die sozia­le Unter­drü­ckung und die Armut lan­des­weit am schlimms­ten ist. Die Repres­si­on dort zeig­te sich zum Bei­spiel am 7. Okto­ber, als bei einer Demons­tra­ti­on in der Pro­vinz­haupt­stadt Zahe­dan mehr als 100 Men­schen erschos­sen wurden.

Und ein drit­tes her­aus­ra­gen­des Merk­mal soll­te nicht über­se­hen wer­den: Seit einer Woche meh­ren sich die Auf­ru­fe zum poli­ti­schen Streik, wie es sie seit mehr als 35 Jah­ren, seit dem Zer­schla­gen von Arbei­ter­rä­ten und lin­ken Orga­ni­sa­tio­nen, nicht mehr gege­ben hat. Ein ers­ter Teil der Ölin­dus­trie in der süd­li­chen Pro­vinz Khu­zi­stan befin­det sich seit einer Woche im Streik, was Erin­ne­run­gen an 1979 wach­ruft, als der Streik der Ölar­bei­ter den Auf­takt zu einem lan­des­wei­ten Gene­ral­streik bil­de­te. Die Füh­run­gen der wich­tigs­ten unab­hän­gi­gen Gewerk­schaf­ten befin­den sich aller­dings fast aus­nahms­los im Gefängnis.

Es ist ein­zig und allein Sache des ira­ni­schen Vol­kes, sein Schick­sal selbst zu bestim­men, mit vol­len demo­kra­ti­schen Rech­ten und der Gleich­stel­lung der Geschlech­ter, mit Reli­gi­ons­frei­heit  und Säku­la­ris­mus, mit der Ver­tei­di­gung der Rech­te aller Min­der­hei­ten und dem Ein­satz für sozia­le und wirt­schaft­li­che Gerechtigkeit.

Des­halb rufen wir auf:
• Aus­wei­tung der inter­na­tio­na­len Unter­stüt­zung durch alle fort­schritt­li­chen und lin­ken Kräf­te für die Pro­test- und Auf­stands­be­we­gung im Iran gegen die reli­giö­se Dik­ta­tur, für die Ver­tei­di­gung der demo­kra­ti­schen Frei­hei­ten und für die Zer­schla­gung der Poli­zei und der Mili­zen, die die indi­vi­du­el­len Frei­hei­ten, ins­be­son­de­re der Frau­en, unterdrücken.

• Inter­na­tio­na­lis­ti­sche Soli­da­ri­täts­be­kun­dun­gen wie Gruß­bot­schaf­ten von Frau­en­be­we­gun­gen, Gewerk­schaf­ten, Stu­die­ren­den­ver­ei­ni­gun­gen usw., um die Bewe­gung poli­tisch und mora­lisch zu unter­stüt­zen. Wir ermu­ti­gen die Gewerk­schaf­ten, mit ihren Part­nern prak­ti­sche For­men der Soli­da­ri­tät zu erör­tern, wir rufen die Uni­ver­si­tä­ten auf, ihre Part­ner auf­zu­for­dern, das Leben und die Frei­heit ihrer Stu­die­ren­den zu schüt­zen, und wir appel­lie­ren an die Frau­en- und Stu­die­ren­den­be­we­gun­gen, Ver­bin­dun­gen mit den Bewe­gun­gen im Iran herzustellen.

• Von ent­schei­den­der Bedeu­tung ist auch die Unter­stüt­zung öffent­li­cher Soli­da­ri­täts­ak­ti­vi­tä­ten, die fort­schritt­li­che Kräf­te der ira­ni­schen Gemein­de im Exil mit der Bewe­gung im Iran organisieren.

Wir for­dern:
- Die Been­di­gung aller Repres­sio­nen im Iran und die Unter­su­chung der Ver­bre­chen, die der Staat bei der Unter­drü­ckung der Bevöl­ke­rung begeht, durch Menschenrechtsorganisationen.

- Für das Recht auf huma­ni­tä­re Visa vor allem für ver­folg­te Frau­en und Mäd­chen und LGBTIQ-Men­schen, die vor der Repres­si­on im Iran fliehen.

Frau, Leben, Freiheit!

Zan, Zen­de­gi, Azadi

Jin, Jiyan, Azadî

Exe­ku­tiv­bü­ro der IV. Internationale, 
18. Okto­ber 2022

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