Ernest Mandel
Redaktionelle Vorbemerkung
Ernest Mandels Artikel „Systemkonforme Gewerkschaften?“ erschien in der Zeitschrift Gewerkschaftliche Monatshefte, Nr. 6/1970.* Seine Ausführungen beruhen auf einem Vortrag, den er bei der öffentlichen Tagung der Bundesschule des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) zum Thema „Gewerkschaftstheorie heute“ Ende März 1970 in Bad Kreuznach gehalten hatte.
Unter der Rubrik „Hinweise der Redaktion“ wird Ernest Mandel wie folgt vorgestellt: „Ernest Mandel lebt als Chefredakteur der Wochenzeitung ‚La Gauche‘ in Brüssel. Von 1955 bis 1962 war er Mitglied der Wirtschaftsstudiumskommission des belgischen Gewerkschaftsbundes. Durch eine Reihe von Buchveröffentlichungen hat sich Ernest Mandel einen internationalen Namen als einer der profiliertesten Marxisten der Gegenwart gemacht. In deutscher Sprache erschienen von ihm die folgenden Bücher: ‚Marxistische Wirtschaftstheorie‘ (Suhrkamp, Frankfurt 1968, 805 Seiten), ‚Entstehung und Entwicklung der ökonomischen Lehre von Karl Marx‘ (Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt 1968, 226 Seiten), ‚Die EWG und die Konkurrenz Europa - Amerika‘ (Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt 1968) und zuletzt ‚Die Lehren der deutschen Rezession 1966 - 1967‘ (Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt). Von seinem Buch ‚Marxistische Wirtschaftstheorie‘ ist gerade jetzt eine Sonderausgabe von 10 000 Exemplaren im Suhrkamp-Verlag erschienen (Preis 12,- DM).“
Die Gewerkschaftlichen Monatshefte wurden von 1950 bis 2004 vom Bundesvorstand des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) als theoretisches Diskussionsorgan herausgegeben.
Heute wäre es kaum vorstellbar, dass einem revolutionären Sozialisten und Kapitalismuskritiker ersten Rangs wie Mandel die Spalten der Gewerkschaftspresse geöffnet würden.
Nicht nur Mandel würde sich im Grabe herumdrehen, wenn ihm das Gerede der aktuellen DGB-Vorsitzenden Fahimi zu Ohren gekommen wäre. Sie rechtfertigte zum Jahreswechsel 2022/23, dass Konzerne, die mehr als 50 Millionen Euro an Staatshilfe erhalten hatten, diese Gelder als Boni und Dividenden ausschütten können. Und Fahimi legte noch nach, als sie wegen dieser mit elementaren gewerkschaftlichen Positionen unvereinbaren Äußerung kritisiert worden war. Sie schwadronierte davon, dass es trotz der Rekordgewinne von Konzernen „nicht die Zeit für kapitalismuskritische Grundsatzdebatten“ sei.
Wir veröffentlichen auch deshalb Mandels Aufsatz erneut, weil er – trotz aller in den letzten 50 Jahren erfolgten Veränderungen – die grundlegenden Herausforderungen für Gewerkschaften im Spätkapitalismus klar benennt. Der in letzter Konsequenz für Gewerkschaften selbstzerstörerischen Anpassung ihrer Bürokratien an die Logik des ausbeuterischen Profitsystems stellt er die antikapitalistischen Perspektiven einer Gewerkschaftsarbeit entgegen, die sich konsequent den Klasseninteressen der eigenen Mitglieder verpflichtet sieht.
Mandel befasst sich nicht nur mit Problematiken wie der damaligen „konzertierten Aktion“, sondern auch mit der schon 1970 absehbaren globalen Zusammenballung von Herrschaft in der „freien Welt“. Er erwähnt in diesem Zusammenhang die drohende Konzentration von „Entscheidungsgewalt in wenigen Händen“ durch „die Verallgemeinerung kyber- netischer Lenksysteme in Wirtschaft und Staat“ (d. h. durch Informationstechnologien). Zudem weist er daraufhin, dass sich ökonomische Macht in wenigen Jahren in „200 Konzernen“ bündeln werde. Diese Prognose wurde 2011, also mehr als vierzig Jahre später, durch die wissenschaftliche Studie der ETH Zürich – „The Network of Global Corporate Control“ – im Kern vollkommen bestätigt (www.researchgate.net/publication/51761051_The_Network_of_Global_Corporate_Control).
Mandel geht ferner auf die Frage der gewerkschaftlichen Gegenwehr in Form von „wilden Streiks“ und von antikapitalistischen Massenkämpfen wie 1968 in Frankreich oder 1969 in Italien ein. Er unterstreicht die Notwendigkeit der internationalen gewerkschaftlichen Solidarität und kritisiert das weitgehende Fehlen wirksamer grenzüberschreitender Aktionen.
Unabdingbar für eine positive Entwicklung der Gewerkschaften ist für Mandel die Ausweitung der innerorganisatorischen Demokratie und die aktive wie aktivierende Einbeziehung der gewerkschaftlichen Basis in die Entscheidungsprozesse ihrer Organisationen.
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Wir haben die ursprüngliche Sprache der Erstveröffentlichung von Mandels Text beibehalten, offensichtliche Fehler aber korrigiert und Zwischenüberschriften eingefügt.
H. N., 25.02.2023
* Teilweise mit kleinen Veränderungen wurde der Text später als Nr. 3 der Heftreihe Gewerkschaften, Berlin 1972, danach in Ernest Mandel, Revolutionäre Strategien im 20. Jahrhundert, Wien 1978 und in der vom RSB/IV. Internationale herausgegebenen Broschüren-Reihe Gegen den Strom, Nr. 2 von Januar 2014, erneut veröffentlicht.
Systemkonforme Gewerkschaften?
Von Ernest Mandel
Die moderne Gewerkschaftsbewegung ist ein Produkt der ersten Phase des modernen Kapitalismus, der Phase der freien Konkurrenz. Die kapitalistische Produktionsweise schließt den Produzenten von jeglichem freien Zugang zu Produktions- und Lebensmitteln ab, zwingt ihn, seine Arbeitskraft zu verkaufen, um die Mittel zum unmittelbaren Lebensunterhalt zu erringen, und verwandelt somit diese Arbeitskraft in eine Ware. Wie jeder Warenbesitzer begibt sich der Besitzer der Ware „Arbeitskraft“ auf den Markt, um diese zu verkaufen. Wie jede Ware wird auch die Ware „Arbeitskraft“ letzten Endes zu ihrem Wert, d. h. zu ihrem gesellschaftlich durchschnittlichen Produktionspreis verkauft. Nur befindet sich der Verkäufer der Ware „Arbeits- kraft“ in einer, durch die kapitalistische Produktionsweise bedingten, besonderen, verglichen mit jener aller anderen Warenbesitzer im Kapitalismus, institutionell unterschiedlichen Lage. Er ist gezwungen, seine Ware zum laufenden Marktpreis zu verkaufen, weil er diese nicht vom Markt zurückziehen kann, um eine günstigere Marktlage abzuwarten. Weigert er sich, den laufenden Marktpreis anzunehmen, so gerät er in Gefahr, zusammen mit seiner Familie zu verhungern. Deshalb wird unter normalen Bedingungen des Kapitalismus, vor allem, wenn die strukturelle Erwerbslosigkeit hoch ist (und die beginnende Industrialisierung bedingt dieses hohe Niveau, mit Ausnahme der bevölkerungsleeren Ansiedlungskolonien), die Ware „Arbeitskraft“ laufend unter ihrem Wert verkauft.
Die moderne Gewerkschaftsbewegung entsteht als Reaktion der Lohnarbeiter auf diesen Tatbestand. Wird die Konkurrenz zwischen den Unternehmern auf die Konkurrenz zwi- schen den Verkäufern der Ware „Arbeitskraft“ ausgedehnt, so sind die Lohnabhängigen hilflos der Tendenz des Sinkens des Lohnes unter die Produktionskosten der Arbeitskraft ausgesetzt. Gewerkschaften sind demnach ein Versuch, die Atomisierung der Lohnabhängigen einzuschränken und die institutionelle Ungleichheit von Käufer und Verkäufer der Ware „Arbeitskraft“ wenigstens dadurch einzuschränken, daß der Verkauf nicht mehr individuell, sondern kollektiv stattfindet.
Doppelcharakter der Gewerkschaften
An und für sich sind demnach Gewerkschaften nicht system-sprengend im Kapitalismus. Sie sind nicht Mittel zur Aufhebung der kapitalistischen Ausbeutung, sondern nur Mittel zu einer für die Masse der Lohnabhängigen erträglicheren Ausbeutung. Sie sollen die Löhne erhöhen, nicht die Lohnarbeit überhaupt aufheben. Aber gleichzeitig sind die Gewerkschaften an und für sich auch nicht systemkonform im Kapitalismus. Denn indem sie dem Sinken der Reallöhne Einhalt gebieten und wenigstens periodisch und unter bestimmten Bedingungen eine günstige Fluktuation von Nachfrage und Angebot an Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt zur Hebung des Marktpreises dieser Ware ausnützen können, erlauben sie der organisierten Masse der Arbeiterschaft ein Minimum an Konsum und Bedürfnissen zu übersteigen, so daß Klassenorganisation, Klassenbewußtsein und wachsendes Selbstvertrauen erst in breiterem Ausmaß entstehen und die Vorbedingungen für einen systemsprengenden Kampf breiterer Massen überhaupt erst erzeugen können.
Um normal funktionieren und sich ausdehnen zu können, benötigt die moderne Gewerkschaftsbewegung zwei wirtschaftliche Vorbedingungen: Erstens einen Grad der Industrialisierung oder des durchschnittlichen Wirtschaftswachs- tums, in dem tendenziell mehr Arbeitsplätze entstehen als gleichzeitig durch die Prozesse des Ruins des selbständigen Handwerks und der selbständigen Bauernschaft sowie durch die Konzentration des Kapitals aufgehoben werden. Zweitens eine Form des Funktionierens der kapitalistischen Produktionsweise, in der die Bestimmung der Löhne durch die Fluktuationen von Nachfrage und Angebot der Ware „Arbeitskraft“, d. h. durch die Marktlage auf dem Arbeitsmarkt, die Lebensinteressen der mächtigsten Schichten der herrschenden Klasse nicht gefährdet. Historisch sind diese Bedingungen nur im Westen und nur in der frühimperialistischen Phase des Monopolkapitalismus, etwa 1890-1914, verwirklicht worden.
Ist die erste Bedingung nicht erfüllt, so bleiben die Gewerkschaften schwach und wirkungslos, wie dies in Großbritannien im ersten Teil des 19. Jahrhunderts, im übrigen Westeuro- pa bis in die achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts der Fall war, und in den Ländern der sogenannten Dritten Welt auch heute noch der Fall ist. Ist die zweite Bedingung nicht mehr erfüllt, so gehen die Großunternehmer daran, durch Ausschaltung der freien Gewerkschaften die nötigen Verwertungsbedingungen des Kapitals wiederherzustellen, wie dies in den ökonomisch schwächeren Ländern Europas zur Zeit der großen Wirtschaftskrise allgemein geschah.
Die Tatsache, daß Gewerkschaften an und für sich weder systemsprengend noch systemfördernd sind, hat seit Ende des 19. Jahrhunderts auch in den ursprünglich von Sozialisten gegründeten Gewerkschaften ähnliche Ansichten der „Neutralität“ gegenüber der kapitalistischen Produktionsweise aufkommen lassen, wie sie bei den „reinen“ Gewerkvereinen etwa Großbritanniens schon seit jeher bestanden. Man solle sich nur auf die Organisation der Lohnabhängigen beschränken, durch die wachsende Macht dieser Organisation die schlimmsten Auswüchse der kapitalistischen Ausbeutung beseitigen, und den Arbeitern einen wachsenden Lebensstandard sichern. Diese Macht würde dann die bürgerliche Gesellschaft zu einer allmählichen Anpassung an objektive Sozialisierungsprozesse zwingen. Das übrige könne man dem allgemeinen Wahlrecht überlassen.
Der von Bernstein offen ausgesprochene Revisionismus entsprach durchaus den Wünschen der führenden Kreise der Gewerkschaften, die auch die schärfsten Gegner der von Rosa Luxemburg geführten Linken in den Auseinandersetzungen innerhalb der deutschen Arbeiterbewegung vor dem 1. Weltkrieg waren. Diesen Ansichten lag eine bestimmte historische Prognose zugrunde, nämlich jene eines graduellen Abbaus der Klassengegensätze innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise dank der organisierten Kraft der Arbeiterbewegung, an erster Stelle der Gewerkschaften. Sechzig Jahre später haben englische und amerikanische liberale Nationalökonomen wie Galbraith den alten Bernstein mit ihrer Theorie der „countervailing-power“ [Gegenmacht]und der „gemischten Gesellschaft“ wieder aufleben lassen.
Gefährliche reformistische Illusionen
Leider hat die Geschichte des 20. Jahrhunderts diese Illusionen eines graduellen Abbaus der inneren Gegensätze der kapitalistischen Produktionsweise keineswegs bestätigt. Seitdem diese Produktionsweise ihre historische Aufgabe der Schaffung des Weltmarkts und der weltweiten Ausdehnung der Warenproduktion erfüllt hatte, zeugt eine lange Reihe von Erschütterungen von der wachsenden Explosivität dieser Gegensätze: zwei Weltkriege, die große Wirtschaftskrise der Jahre 1929 bis 1932, die Ausdehnung des Faschismus in ganz Europa, der Verlust eines Drittels der Erde für die kapitalistische Produktionsweise, eine ununterbrochene Kette von Kolonialkriegen in den letzten zwanzig Jahren, die fürchterliche Gefahr, die der Wettlauf nach Atomwaffen für die Zukunft der Menschheit heraufbeschwört, sind nur einige der wichtigsten Zeugnisse dieser explosiven Gegensätze.
Die aus den Hoffnungen auf einen graduellen, ununterbrochenen Fortschritt geborenen Gewerkschaftstheorien erwiesen sich als unfähig, die neuen historischen Aufgaben, mit denen die Arbeiterbewegung in der Epoche des Kapitalismus konfrontiert wurde, zu erkennen, geschweige denn, sie zu lösen. Ein Festhalten an nur-gewerkschaftlicher Theorie und Praxis mußte zwangsläufig zum Schluß führen, daß nur ein kräftiger und gesunder Kapitalismus Lohnerhöhungen gewähren könne. Darum war man bereit, den Arzt am Krankenbett des Kapitalismus zu spielen, und statt zu versuchen, diesem Kranken zu seinem Ende zu verhelfen, begnügte man sich, den Kapitalismus mit allen Mitteln von seiner Krankheit zu heilen. Das Paradox endete dort, wo man Lohnkürzungen akzeptierte, um einen „gesunden“ Kapitalismus zu erzeugen, d. h., um spätere Lohnerhöhungen zu erreichen. Eine Gewerkschaftsbewegung, die zu solch absurden Schlußfolgerungen gelangte, war offenbar in eine Sackgasse geraten.
Jede Institution unterliegt in einer auf verallgemeinerter Warenproduktion und Arbeitsteilung aufgebauten Gesellschaft der Gefahr der Verdinglichung und der Verselbständigung, d. h. der Gefahr, die ursprüngliche Funktion zu verlieren und nur noch der eigenen Selbsterhaltung zu dienen. Diese Gefahr wird besonders stark, wenn in dieser Institution eine gesellschaftliche Schicht entsteht, deren materielles Interesse engstens mit der Selbsterhaltung der betreffenden Institution verbunden ist. Der Prozeß der Bürokratisierung der Gewerkschaften, der engstens mit der Abwendung von der Klassenkampftheorie zur Theorie und Praxis der Klassenzusammen- arbeit verbunden ist, erklärt so mindestens z. T. jenes Paradox, das aber auch eigenständige ideologische Wurzeln hat, d. h. den inneren Widersprüchen der „reinen“ Gewerkschaftstheorie entspricht. Fing somit die Ideologie der Gewerkschaftsbürokratie an, einen Funktionswandel der Gewerkschaften zu be- stimmen, so wurden allmählich im Zeitalter des Spätkapitalismus immer stärkere objektive Prozesse sichtbar, die in dieselbe Richtung drängten.
Der Spätkapitalismus steht seit den vierziger Jahren im Zeichen der dritten industriellen Revolution, d. h. im Zeichen einer beschleunigten technologischen Erneuerung. Diese be- schleunigte technologische Erneuerung bedingt eine Verkürzung des Reproduktionszyklus des fixen Kapitals, der einen wachsenden Zwang in Richtung auf langfristige Investitionsplanung, genaue Kostenplanung, und deshalb auch genaue Lohnkostenplanung beinhaltet. Dadurch schrumpft das klassische Tätigkeitsfeld der Gewerkschaften automatisch. Idealmo-dell für den „organisierten“ Spätkapitalismus ist eine verallgemeinerte wirtschafts- und sozialpolitische Steuerung, die es den Großkonzernen erlaubt, ihre Investitionsprogramme miteinander zu koordinieren, die unter der Herrschaft des Privateigentums an Produktionsmitteln im Wirtschaftsbereich rein indikativ bleiben muß, die aber im Sozialbereich durchaus imperativ wirken soll. Deshalb überall der Druck zugunsten der „konzertierten Aktion“, der „Einkommenspolitik“, der „sozialen Programmierung“. Hinter all diesen Formeln versteckt sich ein einheitlicher Zweck: Abbau der Tarifautonomie der Gewerkschaften, Verhinderung der Ausnützung von zeitweilig günstigen Konjunkturlagen auf dem Arbeitsmarkt (Vollbeschäftigung oder gar akute Knappheit an Arbeitskräften) durch die Arbeiterschaft im Sinne von bedeutenden Lohnerhöhungen und (unter Bedingung einer bestimmten Geldpolitik) im Sinne einer bedeutenden Senkung der Mehrwert- und Profitrate.
Gewerkschaftliche Integration im Spätkapitalismus …
Gleichzeitig aber verleiht dieser grundlegende Trend des Spätkapitalismus in der Wirtschafts- und Sozialpolitik der Gewerkschaftsbürokratie neue Perspektiven. Es handelt sich jetzt nicht nur darum, die Organisationsmacht am Verhandlungstisch gegenüber den Unternehmervertretern zu verwerten. Es handelt sich nun auch darum, in den zahlreichen Gremien der staatlichen und halbstaatlichen Wirtschaftslenkung die Lohnabhängigen zu vertreten. In den skandinavischen Ländern, in Belgien und Holland, in Frankreich und Italien und seit einigen Jahren auch in Großbritannien hat sich so ein Prozeß der breitesten Integration der Gewerkschaftsspitzen in den bürgerlichen Staat abgezeichnet, wobei Gewerkschaftsführer oft mehr Zeit in diesen staatlichen Gremien als in eigentlichen Gewerkschaftsversammlungen verbringen.
Ideologisch gesehen entspricht diese weitere Integration der Gewerkschaftsbürokratie in den spätbürgerlichen Staatsapparat derselben Motivation der Klassenzusammenarbeit und derselben gradualistischen Illusionen, wie die vorige Welle der Integrationen. Weil der „soziale Fortschritt“ durch das „wirtschaftliche Wachstum“ bestimmt sei, müsse man halt die Verantwortung für dieses wirtschaftliche Wachstum auf sich nehmen, ohne sich Gedanken zu machen über die Struktur der bestehenden Produktionsweise, die durch dieses Wachstum konsolidierten Klassengegensätze und die Klassenausbeutung usw. usf. Weil die Posten in den Verwaltungsräten der verstaatlichten Industrien und Konzerne, weil die Posten im Verwaltungsrat der Zentralbanken, weil die unzähligen Posten in staatlichen Steuerungs- und Planungsgremien als so viele „Positionen“ gesehen werden, von denen aus man die bürgerliche Wirtschaft „Schritt für Schritt“ erobern könne, wird die „Mitbestimmung und Mitverantwortung“ in der spätkapitalistischen Wirtschaft als eine Etappe zur zukünftigen Sozialisierung bei manchen nicht völlig dem Zynismus verfallenen Gewerkschaftsführern rationalisiert. Der Urtyp dieses Verhaltens wurde vom alten französischen Gewerkschaftsführer Jouhaux geliefert, der nach dem Ersten Weltkrieg freudestrahlend das Dekret, das ihn zum Mitglied des Verwaltungsrats der Banque de France ernannte, den Gewerkschaftlern vorlegte und ausrief: „Der erste Nagel im Sarg des Kapitalismus“. Der französische Kapitalismus scheint aber seit fünfzig Jahren diese Nägel sehr gut überstanden zu haben und ist heute genauso lebendig wie im Jahre 1919 …
… und ihre Widersprüche
Die Tendenz zur wachsenden Integration der Gewerkschaftsspitzen in den bürgerlichen Staatsapparat stößt jedoch auf zwei grundlegende Widersprüche im Spätkapitalismus.
Einmal benötigen die Großkonzerne und bürgerlichen Regierungen diese Teilnahme der Gewerkschaftsbürokratie an der wirtschafts- und sozialpolitischen Steuerung nur in dem Maße, wie dadurch ein Aufbegehren der Arbeiterschaft gegen die weiterhin zyklische Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise (einmal Vollbeschäftigung mit „Maßhalten“ in der Lohnpolitik, daraufhin Rezession mit Erwerbslosigkeit und massierte Angriffe der Unternehmer gegen den erreichten Lebensstandard und die gegebenen Arbeitsbedingungen der Lohnabhängigen) erfolgreich abgebaut werden kann. Aber eine wachsende Identifizierung der Gewerkschaftsführung mit der „staatlich gelenkten“ Lohnpolitik (wie etwa in Holland und Skandinavien während langer Jahre) oder mit einer „freiwilligen“ Einkommenspolitik (Großbritannien) muß zwangsläufig auf wachsenden Widerstand der Lohnabhängigen stoßen, auf eine Welle von wilden Streiks, auf eine Aushöhlung der inneren Beziehungen zwischen Gewerkschaftsmitgliedern und Gewerkschaften. Dies aber verringert die Nützlichkeit der Gewerkschaftsbürokratie in den Augen der Großkonzerne. Jene bedürfen nämlich einer die Arbeitermassen tatsächlich kontrollierende und ihre Kämpfe kanalisierende, nicht aber eine nur nominelle Gewerkschaftsbürokratie, wie das Beispiel der sogenannten vertikalen Staatsgewerkschaft in Spanien eindeutig bewiesen hat. Ist die Gewerkschaftsbürokratie zu einer solchen Kontrolle nicht mehr fähig, so wird ihre „Desintegration“ aus dem bürgerlichen Staatsapparat die wahrscheinlichere Variante, sei es, daß die Großkonzerne selbst die Initiative dazu ergreifen, sei es, daß die Gewerkschaftsführung eine „Wende nach links“ vornimmt, um die Kontrolle über die Arbeiteragitation wieder zu erlangen.
Andererseits hat aber auch die Tendenz zur wachsenden Wirtschaftssteuerung und zum „organisierten“ Kapitalismus, die die Integration der Gewerkschaftsbürokratie in den bürgerlichen Staatsapparat bedingt, eine doppelte und widerspruchsvolle Auswirkung auf die Masse der Lohnabhängigen. Diese sind ohne Zweifel in größerem Maß als vorher der mystifizierenden Demagogie der „Betriebsinteressen“ und der vom Bürgertum vorgeheuchelten und nur von Gewerkschaftsseite praktizierten Klassenzusammenarbeit ausgesetzt. Aber gleichzeitig bedingt die wachsende öffentliche Debatte über gesamtgesellschaftliche Aggregate wie Bruttosozialprodukt, Volks- einkommen, Lohnquote, Investitionsquote, Geldvolumen, Produktivitätssteigerung usw. usf. die wachsende Möglichkeit eines Interesses fortgeschrittener Arbeiter und Angestellter für gesamtwirtschaftliche und gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge. Genauso wie die Wirtschaft vor dem Ersten Weltkrieg mit ihrem andauernden Guerillakampf über die Verteilung des von der Arbeiterschaft neu geschaffenen Wertes zwischen Unternehmern und Lohnabhängigen zu einer praktischen Schule des Klassenkampfes wurde, sobald der Arbeiterschaft die inneren Zusammenhänge dieses Kampfes verdeutlicht wurden, genauso können die heutigen öffentlichen Auseinandersetzungen über Verteilung des Volkseinkommens und Umfang, Inhalt und Orientierung der Investitionen zu einer praktischen höheren Schule des Klassenkampfes werden, wenn die Lohnabhängigen wiederum in breitem Ausmaß über die inneren Zusammenhänge dieser Prozesse mit den der kapitalistischen Produktionsweise innewohnenden Widersprüchen und über deren Ausbeutungscharakter aufgeklärt werden, und wenn die Vermittlung dieser Aufklärung über die unmittelbaren Bedürfnisse und Sorgen der Lohnabhängigen gefunden wird.
Gewiß ist dieses objektive Ergebnis der wachsenden Verquickung von Großkonzernen, bürgerlichem Staat und staatlicher Wirtschafts- und Sozialpolitik keineswegs ein automatisches Produkt des „organisierten“ Spätkapitalismus. Eine demokratisch-neoreformistische Strömung, die sich seit den sogenannten Plan-Experimenten etwa eines Hendrik de Mans in den dreißiger Jahren in der Gewerkschaftsbewegung verbreitet hat, versucht den Übergang des Kampfes für Reformen in der Distributionssphäre zu Kämpfen für Strukturreformen als einen großen Fortschritt an und für sich darzustellen. Die Erfahrung beweist aber immer wieder, daß zwischen neokapitalistischen, das System – sehr oft auf Kosten der Lohnquote! – rationalisierenden und leicht von den Großkonzernen zu absorbierenden Strukturreformen und solchen, die systemsprengend wirken, weil sie in die kapitalistische Produktionsweise nicht integriert werden können und letzten Endes dazu führen, daß der Klassenkampf einer Entscheidungsschlacht zustrebt, schärfstens unterschieden werden muß. Die Ersten führen in ihrer Logik zu einer weiteren Integration der Gewerkschaftsbürokratie in den bürgerlichen Staatsapparat, zu einem weiteren Abbau von Kampfwillen und Kampferfahrung der Lohnabhängigen. Der Kampf um die Zweiten kann dagegen nur die Gewerkschaftsbewegung radikalisieren und die Masse für weitere und breitere Kämpfe und wachsendes antikapitalistisches Bewußtsein mobil machen.
Radikale antikapitalistische Arbeitskämpfe
Die Möglichkeit, von den neuen Formen des Funktionierens der kapitalistischen Produktionsweise selbst auszugehen, um die Gewerkschaftsbewegung und breitere Arbeitermassen auf radikale antikapitalistische Ziele umzuorientieren, entspricht einer spontanen Tendenz des elementaren Arbeiterkampfes auf Betriebsebene, wie er sowohl in dem französischen Generalstreik vom Mai 1968 und in den großen italienischen Streiks im Herbst und Winter 1969 sowie ansatzweise in den zahlreichen wilden Streiks vieler westeuropäischer Länder der letzten zwölf Monate zum Ausdruck kam. Was in diesen größten Streiks, die es bisher in der Geschichte des Kapitalismus gegeben hat (nahezu 10 Millionen Streikende in Frankreich, nahezu 15 Millionen in Italien) zum ersten Mal schlagartig ausgesprochen wurde, das war eine Herausforderung und eine „Infragestellung“ nicht nur der kapitalistischen Einkommensverteilung, sondern der kapitalistischen Produktionsverhältnisse selbst. Wie bedeutend auch Lohn- und Arbeitszeitfragen für diese Streikbewegung waren, so bestand das Neue an diesen riesigen Arbeitskämpfen in Westeuropa darin, daß die Streikenden sehr oft spontan, ohne tiefere theoretische Einsicht und mit unbeholfenen Formulierungen, als Kampfziele nicht nur mehr Lohn und kürzere Arbeitszeit forderten, sondern die neuen Formen der Entlohnung (Arbeitsplatzbewertung, measured day work usw.), die zur Atomisierung der Arbeiterklasse und zur rationalisierten Kontrolle über die Arbeitskraft im Betrieb führen, in Frage stellten, die Spanne zwischen den am schlechtesten und den am besten bezahlten Schichten der Lohnabhängigen versuchten herabzusetzen, die Arbeitsorganisation im Betrieb angriffen, den Rhythmus des Fließbandes selbst versuchten zu bestimmen, ja sogar die innerbetriebliche Arbeitsteilung erschütterten und die Autorität der Meister und Vorarbeiter, d. h. die ganze hierarchische Struktur des kapitalistischen Betriebes, anfingen zu untergraben. Man kann alle diese neuartigen Forderungen nicht besser zusammenfassen als in ihnen die Keimform des unmittel- baren Kampfes gegen das Recht und die Macht des Kapitals, Arbeit und Maschinen zu kommandieren, d. h. die Keimform des unmittelbaren Kampfes gegen die kapitalistischen Produktionsverhältnisse selbst zu erkennen.
Gewiß wäre es verfrüht, die französischen und italienischen Streiks, d. h. das Klassenbewußtsein von 25 Millionen westeuropäischer Lohnabhängiger sämtlich auf diesen Nenner zu bringen. Noch verfehlter wäre es, in jedem „wilden Streik“ jedes westeuropäischen Landes bereits den Ansatz zu einem französischen Mai oder einem italienischen Herbst, d. h. den Ansatz zu einer solchen wenigstens in Keimform direkten Infragestellung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse zu sehen. Noch nie war das Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung und der inneren Differenzierung der Arbeiterschaft so stark in Westeuropa erkennbar wie heute. Aber es handelt sich darum, das Neue in diesen Kämpfen rechtzeitig aufzudecken und zu erkennen, daß es die Tendenz haben wird, sich allmählich auf alle imperialistischen Länder des Westens, sowie auf Japan, auszudehnen.
Denn diese neuartige Form der Arbeiterkämpfe in den industrialisierten Ländern ist selbst ein Produkt der dritten industriellen Revolution, der sich verändernden Formen der kapitalistischen Produktionsweise. Beschleunigte technologische Erneuerung bedeutet im „organisierten“ Spätkapitalismus beschleunigte Strukturkrisen von Gewerben, Industriezweigen und Industrierevieren, beschleunigte Disqualifizierung ganzer Berufsgruppen, beschleunigte Ausbeutung und vor allem ständige Intensivierung des Arbeitsprozesses, aber gleichzeitig beschleunigtes Wiedereinschleusen geistiger Arbeit in den Produktionsprozeß, beschleunigte Hebung des durchschnittlichen Qualifikations- und Wissensniveaus der Produzenten in den technisch führenden Industriezweigen, beschleunigtes Umsichgreifen der Infragestellung der bürgerlichen Herrschafts- und Entfremdungserscheinungen im Bereich der Hoch- und Mittelschulen, des Kommunikationswesens, der Lebensgemeinschaft und der Konsumsphäre überhaupt, was unver- meidlich zu einer wachsenden Infragestellung derselben Herrschafts- und Entfremdungsbedingungen in der Produktions-sphäre führen muß.
Intergration durch „Mitbestimmung“
Die intelligenteren Führungsspitzen der Großkonzerne und der bürgerlichen Klasse sind sich der großen Gefahr, die diese neuen Kampfformen und Kampfziele der Arbeiterschaft für das Überleben ihrer Klassenherrschaft mit sich bringen, durchaus bewußt, – leider viel mehr bewußt als die meisten Gewerkschaftsführer. Darum fällt eine ideologische Kehrtwende dieses Großbürgertums zeitlich zusammen mit der französischen Mai-Explosion vom Jahre 1968. De Gaulle lancierte die Lösung der participation, die seither eifrigst von britischen Tories, von den verschiedensten Strömungen des französischen Bürgertums, von den meisten skandinavischen Kapitalisten (wie auch von den meisten nördlichen Sozialdemokraten), ja sogar von einem Teil der spanischen Großkonzerne freudig aufgegriffen wurde. Auf Deutsch frei übersetzt heißt „participation“ „Mitbestimmung“. Es zeugt für die wohl bekannte politische Unreife des westdeutschen Bürgertums, daß eine Formel, die anderswo als der letzte Schutzwall vor dem Verlust der Unternehmerautorität in Betrieb, Wirtschaft und Staat erkannt ist, in der BRD noch als eine zu bekämpfende teuflische Gefahr beschworen wird. Denn um einen solchen Schutzwall handelt es sich zweifelsohne. Nachdem breitere Teile der westeuropäischen Arbeiterschaft in der Tat bewiesen haben, daß weder übertarifliche Vorteile auf Betriebsebene, noch wachsende Integration der Gewerkschaftsspitzen in den bürgerlichen Staatsapparat sie davon abhalten können, periodisch in großen explosionsartigen Kämpfen den Fortbestand der kapitalistischen Produktionsweise objektiv in Frage zu stellen, wollen nun die spätkapitalistischen Großkonzerne Westeuropas ihr historisches Ziel der letzten Jahrzehnte – systematisches Abwiegeln des proletarischen Klassenkampfes und systematisches Verschütten des proletarischen Klassenbewußtseins – auf einem neuen Weg erreichen: dadurch, daß den Gewerkschaften „Mitbestimmung“ an der nationalen Lenkung der Wirtschaft und Mitverantwortung an der Wirtschaftsleitung auf Betriebsebene verliehen wird.
Das Manöver ist so plump, daß es keine Erfolgschancen hätte, wenn nicht bedeutende Teile der Gewerkschaftsführung selbst in dieser Frage solche Verwirrung in den Köpfen der Lohnabhängigen gesät hätten, daß manchem von ihnen das Unternehmermanöver als eine Arbeitererrungenschaft erscheint. Das Manöver ist plump, denn genauso wie die „konzertierte Aktion“, die „Einkommenspolitik“ und die „soziale Programmierung“ versucht es, die unterschiedliche Klassenlage, in der sich Käufer und Verkäufer der Ware Arbeitskraft in der bürgerlichen Gesellschaft befinden, zu verschleiern. Da der Arbeiter weder über Reichtum noch über die dem Reichtum entspringende Wirtschaftsmacht verfügt, kann sein Lohn präzise durch Unternehmer und Regierung festgesetzt, kann die Lohnsteuer an der Quelle sofort und total erfaßt, kann – mit Ausnahme der Wirkung der bösen „wilden Streiks“ – auch die gesamtgesellschaftliche Lohnsumme exakt im Voraus festgelegt werden. Aber genauso wie es bisher in der Geschichte noch keiner bürgerlichen Regierung, auch unter Androhung schwerster Strafen – man denke an das Naziregime – gelungen ist, Preise und Gewinne einzufrieren, so kann es keinem „Mitbestimmungsgremium“ oder „mitbestimmenden“ Verwaltungsrat gelingen, die Gesetze der kapitalistischen Konkurrenz und der Kapitalverwertung auszuschalten, zu verhindern, daß es zu periodischen Wirtschaftsschwankungen kommt, zu verhindern, daß Unternehmer durch die Konkurrenz gezwungen werden, periodisch strenge Rationalisierungsmaßnahmen zu treffen, Entlassungen oder Kurzarbeit einzuführen, den Arbeitsrhythmus zu steigern, die Ausbeutung der Arbeitskraft zu verstärken usw. usf. Mitbestimmung und Mitverantwortung, bei gleichzeitigem Beibehalten des Privateigentums und profitorientierten Wirtschaftsgefüges, bedeutet daher unvermeidlich Mitbestimmung und Mitverantwortung für diese Blüten kapitalistischer Produktionsweise.
Arbeiter-„Vertreter“, die dazu bereit sind, müssen unweigerlich mit den unmittelbaren Interessen ihrer Mandanten zusammenstoßen, ja sich in Vertreter der „Betriebs-“ (d. h. der Kapital-) Interessen gegen die Arbeiterschaft verwandeln. Es ist schwer, irgendwo auf diesem Wege haltzumachen und zu sagen: bis hierhin und nicht weiter. Haben wir nicht bei den jüngsten „wilden“ Streiks der Gewerkschaftsbewegung entstammende „Arbeitsdirektoren“ gesehen, die als echte Unternehmer-Scharfmacher versuchten, die „aufwieglerischen Elemente“ aus den Betrieben zu entfernen, ja sogar jegliche Konzession an die Streikenden und jegliche Verhandlung mit ihnen abzulehnen, sogar zu einem Zeitpunkt wo die Unternehmer selbst bereits eine viel „gemäßigtere“ Sprache führten?
Gefahr der gewerkschaftlichen Selbstaufgabe
Eine sich nicht nur in den bürgerlichen Staatsapparat, sondern sogar in die tägliche Betriebsführung des Kapitalismus integrierende Gewerkschaft wäre keine „systemkonforme“ Gewerkschaft, sie würde rasch aufhören, überhaupt noch eine wirkliche Gewerkschaft zu sein. Die Lohnabhängigen würden keinerlei Grund mehr erkennen, solchen Arbeitskontrolleuren und Arbeitsdirektoren noch Teile des schwer erarbeiteten Lohnes in Form von freiwilligen Beiträgen zuzuschanzen. Ein Trend zum Mitgliederschwund würde in großem Stil einsetzen (man studiere z. B. die Fluktuation einiger solcher „systemkonformer“ Gewerkschaften in den USA, wie des Bergarbeiterverbandes, während der letzten Jahre!). Da die Unternehmer keinerlei Interesse daran hätten, der Gewerkschaftsbürokratie finanzielle Schwierigkeiten im Tausch für die enge Zusammenarbeit zu verursachen, würde man einem System der zwangsmäßigen Erhebungen von Gewerkschaftsbeiträgen „an der Quelle“ durch die Unternehmer selbst – sozusagen einem System von „Lohnsteuer zweiten Grades“ – zustreben, wie es für die spanischen „vertikalen Gewerkschaften“ gilt. Am Endpunkt eines solchen Entartungsprozesses hätte die Gewerkschaftsbürokratie aufgehört, eine Bürokratie selbständiger Arbeiterorganisationen zu sein. Sie wäre nur noch ein besonderer Bestandteil der staatlichen Verwaltungsbürokratie, die für die spätkapitalistische Gesellschaft die leider zu unberechenbaren Taten neigende und explosionsanfällige Ware „Arbeitskraft“ zu verwalten hätte, so wie andere Teile dieser Bürokratie Züge, Autobahnen, Briefmarken, Hochschulen und Panzer verwalten.
Glücklicherweise sind wir noch weit davon entfernt, an diesem Schlußpunkt des Prozesses angelangt zu sein. Nur die ersten zögernden Schritte in Richtung auf diese Selbstverleugnung und Selbstaufhebung der freien Gewerkschaftsbewegung wurden bisher in Westeuropa unternommen. Und alles spricht dafür, daß die bewußteren, radikaleren und kämpferischen Teile der westeuropäischen Arbeiterschaft diesen Prozeß rechtzeitig umkehren werden. Diese Umkehrung ist je- doch auf die Dauer nur möglich, wenn die Gewerkschaftsbewegung ihre Haltung zum Problem der inneren Gewerkschaftsdemokratie, zum Problem der neuen, aus der spezifischen Lage des Spätkapitalismus erwachsenen Aufgaben und zum sozialistischen Endziel der Arbeiterbewegung gründlich überholt und neugestaltet.
Mit der Zentralisation des Kapitals hat auch eine andauernd wachsende Zentralisation der Gewerkschaften Schritt gehalten. Es ist dies ein sehr widerspruchsvoller und zwiespältiger Prozeß. Gewerkschaften sind, anders als Parteien, keine Organisationen von Gleichgesinnten, keine Verbände die nur Werktätige vereinigen, die auf einer bestimmen programmatischen Basis stehen und ein bestimmtes historisches Ziel verwirklichen wollen. Sie sind im Prinzip Vertreter der unmittel- baren materiellen Interessen all derer, die gezwungen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Aber auch der Anschluß an Gewerkschaften erfordert ein Mindestmaß an elementarem Klassenbewußtsein, das wenigstens in den größeren Länder des Westens bisher immer nur eine Minderheit von Lohnabhängigen erreicht hat.
Die Zentralisation der Gewerkschaften erlaubt es deshalb, der zentralen wirtschaftlichen Macht des Großkapitals mehr Macht entgegenzustellen, als isolierte Lohnabhängige einer Werkstatt, eines Betriebes, einer Stadt oder eines Industriereviers normalerweise vorzeigen könnten. Sie ist deshalb eine notwendige Waffe im Klassenkampf, die vor allem den Schwächeren, den weniger Organisierten oder den durch eine besondere Wirtschaftslage zu ungünstigen Ausgangsbedingungen beim Aushandeln des Arbeitslohns Verurteilten zugutekommt. Für eine Aufhebung der gewerkschaftlichen Zentralisation zu agieren, wäre letzten Endes nur zugunsten der Kapitalistenklasse.
Innergewerkschaftliche Demokratie
Aber dieselbe Zentralisation, die es den schwächeren Lohnabhängigen erlaubt, günstigere Lohn- und Arbeitsbedingungen auszuhandeln als sie selbst erreichen könnten, droht, sich gegen die Kämpferischen und Radikaleren zu wenden, sobald ein gewerkschaftlicher Apparat bürokratisch verformt und verselbständigt ist. Sie droht die gesamte Grundlage der Gewerkschaften zu untergraben, wenn sie zu einer systematischen Passivität der Gewerkschaftsmitglieder entartet, weil ein immer kleinerer Kreis von Funktionären die zentralen Entscheidungen trifft – einschließlich der Kompromisse bei Tarifverhandlungen – ohne eine breite Schicht von Aktivisten in den Entscheidungsprozeß einzuschalten.
Die übermäßige Zentralisation der gewerkschaftlichen Entscheidungsgewalt ist umso gefährlicher, als gerade die Weigerung lebendiger Gewerkschaftsorganisationen, sich der „Einkommenspolitik“, der „sozialen Steuerung“ und der „konzertierten Aktion“ auf Dauer zu fügen, periodisch zu scharfen, von den Unternehmern orchestrierten Kampagnen gegen die „übermäßige Macht der Gewerkschaften“ führt (wie dies in Großbritannien in den Jahren 1967 und 1968 der Fall war), und diese solche Kampagnen nur dann erfolgreich überstehen können, wenn sie über die freiwillige und begeisterte Unterstützung von Tausenden und Abertausenden von aktiven Mitgliedern verfügen.
Es ist kein Zufall, daß die sonst ach so stark auf „Demokratie“ eingeschworene bürgerliche öffentliche Meinung den Gewerkschaften noch mehr Zentralisation aufdrängen möchte, indem sie der Führung vorwirft, sie lasse der „anarchistischen Zügellosigkeit“ der Betriebskader, etwa in Ländern wie Großbritannien und Italien, zu viel Spielraum. Die Unternehmer möchten gerne, daß die Gewerkschaftsapparate selbst die, von ihrem Standpunkt aus gesehen, unumgängliche „Säuberung“ der Betriebe durchführen. Wehe der Gewerkschaft, die sich zu diesem Kurs entschließen würde; ihre gewerkschaftliche Substanz würde schnell schwinden.
Das einzige Mittel, um die Auswüchse der gewerkschaftlichen Zentralisation zu vermeiden, ist breiteste innergewerkschaftliche Demokratie. Dies bedeutet nicht nur die Pflicht, vor jeder bedeutenden Entscheidung die Mitgliedschaft und das Aktiv weitestgehend zu informieren, zu befragen und beschließen zu lassen, sondern ebenfalls das Recht von Minderheiten, sich zusammenzuschließen, um auf Gewerkschafts- tagen ihre Anstrengungen wenigstens teilweise ebenso gut koordinieren zu können, wie dies der Apparat vermag. Es ist bezeichnend, daß der gemäßigte Flügel der Gewerkschaften dieses Recht immer selbstverständlich für sich beansprucht, wenn er sich in einer Minderheitsposition befindet oder fürchtet, bald in eine solche Position verdrängt zu werden, seinerseits aber nicht bereit ist, einer radikalen Minderheit dasselbe Recht zuzugestehen, sobald seine Kontrolle über die Organisation wiederum konsolidiert ist. Die Gewerkschaften der Weimarer Republik in den zwanziger Jahren, wie jene der CSSR in den Jahren 1968 und 1969, legen davon beredtes Zeugnis ab.
Oft wird solchen Gedankengängen entgegengehalten, daß die Gewerkschaftsmitglieder selbst letzten Endes schuld sind an der wachsenden Macht der Apparate, weil sie Versammlungen nicht besuchen, keinerlei Aktivität an den Tag legen, und oft noch gemäßigter sind als der Apparat. Wir wollen nicht verhehlen, daß ein Körnchen Wahrheit in diesen Ausführungen steckt – aber nur ein Körnchen. Denn erstens zeigen Ereignisse immer wieder, daß gelegentlich große Arbeitermassen dem Gewerkschaftsapparat wie im Jahre 1968 in Frankreich und im Jahre 1969 in Italien um tausend Meilen voraneilen, anstatt ihm nachzuhinken. Und zweitens gilt für die gewerkschaftliche Aktivität, was für das Schwimmen gilt: Man kann es nur erlernen, wenn man irgendwann ins Wasser springt, d. h. zur Praxis übergeht. Diejenigen, die der Arbeitermasse vorwerfen, sie zeige zu wenig gewerkschaftliche Aktivität, sollten sich die Frage stellen, was sie denn unternommen haben, um diese Masse zur Selbstinitiative, zur Selbstaktivität und Selbstentscheidung zu erziehen. Nur eine Gewerkschaftsstrategie, die systematisch auf eine solche Erziehung in der täglichen Kampfpraxis ausgerichtet ist, kann eine aufsteigende Linie in der Gewerkschaftstätigkeit breiter Massen erzeugen. Eine Gewerkschaftsstrategie, die der Masse der Mitglieder jede Möglichkeit und jedes Gefühl, daß sie selbst Initiative im Kampf ergreifen kann, nimmt, kann nur eine Kombination wachsender gewerkschaftlicher Passivität und periodischer Explosionen außerhalb des Rahmens der Gewerkschaften erzeugen.
Arbeiterkontrolle über die Produktion
Eine auf aktive Initiative der Basis im Klassenkampf ausgerichtete Gewerkschaftsstrategie ist aber auch die Einzige, die den neuen Aufgaben entspricht, die der Gewerkschaftsbewegung aus der jetzigen Entwicklungsphase des Kapitalismus erwachsen. Wir sagten bereits, daß sich immer mehr Arbeiter- kämpfe spontan in Richtung auf ein Infragestellen der kapitalistischen Produktionsverhältnisse bewegen. Die Strategie, die dieser spontanen Tendenz entspricht, ist jene der Arbeiterkontrolle über die Produktion. Im Gegensatz zur „Mitbestimmung“ geht die Strategie der Arbeiterkontrolle über die Produktion davon aus, daß Tarifautonomie der Gewerkschaften einerseits und Mitverantwortung für die Profitmaximierung der Betriebe und Konzerne andererseits, daß Verteidigung der Interessen der Lohnabhängigen einerseits und das sich den Bewegungsgesetzen der kapitalistischen Produktionsweise Fügen andererseits grundlegend unvereinbar sind. Sie fordert deshalb Kontroll- und Veto-Rechte für Lohnabhängige, nicht aber Mitverantwortung für die Verwaltung kapitalistischer Betriebe und kapitalistischer Wirtschaft.
„Arbeiterkontrolle im Kapitalismus, Mitbestimmung im Sozialismus“ – in diese knappe Formel hat der verstorbene stellvertretende Generalsekretär des belgischen Gewerkschaftsbundes FGTB, André Renard, die gewerkschaftliche Doktrin in diesem Sachbereich zusammengefaßt. Sie scheint uns völlig zuzutreffen.
Arbeiterproduktionskontrolle erfordert aber weitgehende Initiative auf der Ebene des Konzerns und des Betriebs, ja sogar auf der Ebene der Werkstatt und jedes Fließbandes. Der Kampf um Arbeiterkontrolle über die Produktion schafft Keimformen der Selbstorganisation aller Lohnabhängigen am Arbeitsplatz, wie dies heute am Beispiel des größten Betriebes Westeuropas, der Turiner FIAT-Werke, erstmalig seit Jahrzehnten wieder der Fall ist. Einen solchen Delegierten-Körper in die Gewerkschaftsorganisation reintegrieren und gar gesetzlich untermauern zu wollen, heißt, seine Eigenart völlig zu verkennen. Es handelt sich vielmehr um eine Erweiterung des Tätigkeitsfeldes der Werktätigen im Betrieb, die sich nicht mehr auf Tarifverhandlungen beschränken und durch das Ergebnis dieser Verhandlungen einschränken lassen wollen. Diese Selbstorganisation der Werktätigen am Arbeitsplatz muß völlige Autonomie bewahren, um zum Zuge zu kommen; sie ist Keimform eines Systems von Doppelherrschaft auf Betriebsebene, die ihrerseits nur Keimform einer Räteordnung sein kann. Darin liegt ihre Besonderheit und ihre Aufgabe. Aber sie kann und wird auf die Tätigkeit der Gewerkschaftsmitglieder im Betrieb rückwirken, deren Aktivität stimulieren, und die gewerkschaftliche Demokratie fördern, solange sie Ausdruck einer wachsenden Anteilnahme der Masse der Lohnabhängigen an den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen bleibt.
Internationale gewerkschaftliche Solidarität
In dieselbe Richtung einer geschmeidigeren Artikulation von Zentralisierung und innergewerkschaftlicher Demokratie drängt auch eine andere neue Aufgabe, die den Gewerkschaften aus der Entwicklung des Spätkapitalismus zukommt: jene der stärkeren internationalen Zusammenarbeit und Integration. Im Zeitalter des multinationalen Konzerns ist dies das einzige Mittel, um der raschen Auftragsverlegung von Land zu Land, des raschen Gegeneinander-Ausspielens von Werktätigen mit relativ geringeren Löhnen gegen Werktätige mit relativ höheren Löhnen seitens dieser internationalen Konzerne wenigstens teilweise zu entgehen. Bisher haben die großen Gewerkschaftsapparate in der Frage der internationalen Aktion völlig versagt. Man wartet immer noch auf den ersten europäischen Streik, wo es bereits so viele europäische Konzerne gibt. Und wenn die Arbeiter eines solchen Konzerns in einem Lande streiken, oder die Streikenden eines Industriezweiges durch rasches Herbeiführen konkurrierender Ware aus einem Nachbarland in der Wirksamkeit ihres Streiks schwer gestört werden, dann hat bisher die millionenstarke „offizielle“ Gewerkschaftsbewegung weniger für internationale Solidarität erreicht als kleine radikale Minderheitsgruppen.
Eine solche internationale Zusammenarbeit und Integration ist jedoch undenkbar auf der Ebene der organisatorischen Zentralisation: Hier muß gleichzeitig auf Konzern- und Betriebsebene und auf der Ebene von Dachverbänden gehandelt werden. Und hier hat die Gewerkschaftsbewegung die Pflicht, mit dem eigenen erzieherischen Beispiel vorangehend zu beweisen, daß die These, es gebe in der heutigen Welt überhaupt kein Mittel, um durch technischen Fortschritt bedingte Zentralisierung mit wachsender Selbsttätigkeit und Selbstbestimmung aller Menschen zu verknüpfen, nur der bürgerlichen und der bürokratischen Logik, keineswegs aber der Wirklichkeit entspricht.
Ein konservativer britischer Technokrat, Michael Rose, spricht die Befürchtung aus, die Verallgemeinerung kybernetischer Lenksysteme in Wirtschaft und Staat könne zu einer gewaltigen Konzentration an Entscheidungsgewalt in wenigen Händen führen, gegründet auf das Monopol des Zugangs zu der so angehäuften Informationsmasse.1 Mehrere bürgerliche Nationalökonomen haben den Gedanken geäußert, daß in spätestens fünfzehn Jahren etwa 200 internationale Großkonzerne die Wirtschaft der „freien Welt“ beherrschen würden. Daß ihnen das Paradox verborgen bleibt, das darin liegt, eine durch solche Konzentration von Wirtschaftsmacht gekennzeichnete Welt noch „frei“ zu nennen, zeugt nur für die so typische Problemblindheit dieser bürgerlichen Nationalökonomen.
Eine „freiheitlich-demokratische Ordnung“, in der tatsächlich alle großen strategischen Entscheidungen, die das Wirtschafts- und Gesellschaftsleben breiter Massen bestimmen, durch diese Massen selbst getroffen werden, in der sich der Zugang zu allen wichtigen Informations- und Wissensquellen verallgemeinert, wo also Zentralisierung der Technik mit weitester Dezentralisierung der Entscheidungsprozesse verbunden wird, ist nur möglich aufgrund des Gemeineigentums an Produktionsmitteln und ihrer Verwaltung durch demokratisch-zentralistische, d. h. geplante Selbstverwaltung von Produzenten und Konsumenten.
Die Gewerkschaften werden ihre aus der letzten Entwicklung des Spätkapitalismus entsprungenen Aufgaben nur lösen können, wenn sie sich wieder voll durch dieses sozia- listische Endziel, das noch nie so relevant war wie heute, in ihrer täglichen Praxis lenken lassen. „Systemkonforme“ Gewerkschaften kann es im Spätkapitalismus nicht geben. „Systemkritische“ Gewerkschaften aber erfordern bewußte Sozia- listen an ihrer Spitze.