Am Ran­de der Gesellschaft

Teil I: Die Erwar­tun­gen wer­den immer größer

R.G.

Wie immer muß ich ein­mal im Monat zur Job­bör­se. Der Unter­schied zwi­schen der Job­bör­se und dem Job­cen­ter besteht dar­in, dass die Job­bör­se für die Arbeits­ver­mit­lung zustän­dig ist. Das Job­cen­ter ist für die Aus­zah­lung der Koh­le und gege­be­nen­falls für Sank­tio­nen zustän­dig - falls du mal einen Ter­min ver­passt hast.

Eigent­lich habe ich noch nie gezählt, wie vie­le Bewer­bun­gen ich bis­her schon geschrie­ben habe. Schät­zungs­wei­se dürf­ten es wohl so um die zwei­hun­dert gewe­sen sein. 
Zwi­schen­zeit­lich hat­te ich oft „Mini-Jobs“. Das waren Haus­be­su­che, bei denen ich zwei Mal die Woche zwei oder drei Pati­en­tIn­nen behan­del­te. Vie­le Phy­sio­pra­xen nut­zen die „Agen­da 2010“ hem­mungs­los aus. Sie stel­len in der Regel nur noch Mini-Jobe­rIn­nen ein. So spa­ren sie bei den Sozi­al­ab­ga­ben. Ich hat­te eine Zeit­lang in einer Pra­xis gear­bei­tet, in der drei Voll­zeit­kräf­te und 15 Mini-Jobe­rIn­nen tätig waren.
Iro­ni­scher­wei­se nennt man uns bei der Job­bör­se und dem Job­cen­ter „Kun­den“. Als Kun­de habe ich mich jedoch noch nie gefühlt.

An einem Tag, an dem ich einen Ter­min hat­te, wur­de mir eine Voll­zeit­stel­le ange­bo­ten. Chan­cen rech­nne­te ich mir kei­ne aus. Nach dem übli­chen Bewer­bungs­ab­lauf begann das gros­se Warten.

Das Vor­stel­lungs­ge­spräch
Wider Erwar­ten kam es zu einem Vor­stel­lungs­ge­spräch. Damit hat­te ich nicht gerech­net. Frisch gestylt, akku­rat geklei­det und gut rasiert ging ich mei­nem Glück oder Ver­der­ben ent­ge­gen. Das Gespräch fand auf der Stra­ße vor der Pra­xis statt. Mir wur­den 13 Euro Stun­den­lohn ange­bo­ten. Natür­lich war das kein Tariflohn.

In der Regel liegt der Satz bei 2.600 bis 2.900 Euro brut­to im Monat. Bei mir soll­ten es 1.820 Euro brut­to bei einer 35-Stun­den­wo­che sein, net­to also etwa 1.300 Euro. Wohl­ge­merkt: Ich bin kein Berufs­an­fän­ger, ich habe über 33 Fort­bil­dun­gen gemacht und hat­te 20 Jah­re lang eine eige­ne Pra­xis mit vier Ange­stell­ten geführt.

Bei dem Vor­stel­lungs­ge­spräch wur­de ich gefragt, ob ich frü­her anfan­gen könn­te, da mei­ne Vor­gän­ge­rin „krank mache“. Die­se Unter­stel­lung stieß mir natür­lich sau­er auf. Wie ich spä­ter von den Kol­le­gIn­nen als auch von ihren bis­he­ri­gen Pati­en­tIn­nen erführ, war sie mit ihren Kräf­ten am Ende - und dies mit 24 Jahren.
Irgend­wie hat­te ich den­noch bezüg­lich mei­ner Chan­cen ein gutes Gefühl, und so war es auch. Es kam die Zusa­ge, und ich fühl­te mich glücklich.

Im kal­ten Wasser
An mei­nem ers­ten Arbeits­tag soll­te ich nur ein paar Stun­den Stun­den arbei­ten. Da ich noch kei­nen Arbeits­ver­trag hat­te, wei­ger­te ich mich, ohne Ver­trag anzu­fan­gen. Man teil­te mir dann mit, wir haben so vie­le Pati­en­ten für Dich ein­ge­plant, denen wir nicht allen wie­der absa­gen kön­nen. Zäh­ne­knir­schend wil­lig­te ich dar­auf ein, da ich die­se Stel­le nicht ver­lie­ren wollte.
Die Che­fin warf mich gleich ins kal­te Was­ser. Nach einem kur­zem Rund­gang durch die Pra­xis-Räu­me muss­te ich los­le­gen. Es ging rasant zu, Kabi­ne 2, Kabi­ne 6, Kabi­ne 4 und so wei­ter. Alles im 20-Minu­ten-Takt. Es gab nicht mal Zeit, um Pin­keln zu gehen.

Nätür­lich gibt es auch spe­zi­el­le The­ra­pien, wie zum Bei­spiel die „Manu­el­le Lymph­drai­na­ge“. Die­se Behand­lung kann bis zu 1,5 Stun­den dau­ern. Da die­se Aus­bil­dung sehr teu­er und anspruch­voll ist, ver­fü­gen die wenigs­ten The­ra­peu­tIn­nen da- rüber. Mei­ne dies­be­züg­li­che Qua­li­fi­ka­ti­on war wohl auch einer der Grün­de, war­um ich die­sen Job bekam.

Glücks­ge­fühl am Fei­er­abend
Als ich Fei­er­abend hat­te und mit dem Rad nach Hau­se fuhr, fühl­te ich mich ganz toll. Ich hat­te zum ers­ten Mal nach 4 Jah­ren wie­der in einer Pra­xis gear­bei­tet, statt nur stun­den­wei­se Haus­be­su­che durchzuführen.
Ich schätzt ich mich also sehr glück­lich, obwohl ich nie geglaubt hät­te, mei­ne Arbeits­kraft und mei­ne Lebens­zeit so bil­lig ver­kau­fen zu müs­sen. Es ist eben ein enor­mer Wert, wie­der arbei­ten zu können. 
Mei­ne Woh­nung liegt recht weit ent­fernt von der Pra­xis. Mit dem Rad benö­tig­te ich 30 Minu­ten, spä­ter 20 Minu­ten. Bei der Ein­stel­lung wur­de mir ein Auto für die Haus­be­su­che ver­spro­chen. Es gab aber nie ein Auto, wir mach­ten alle unse­re Haus­be­su­che mit unse­ren eige­nen Fahrrädern. 
Mei­ne Fra­ge, ob ich mein zu Dienst­zwe­cken benutz­tes Rad bei Kos­ten­über­nah­me war­ten las­sen kön­ne, wur­de ver­neint. Ich kön­ne ja das Rad der Pra­xis nut­zen. Als ich es mir anschau­te, fand ich ein schrott­rei­fes Vehi­kel vor.

Am zwei­ten Tag muß­te ich dann Haus­be­su­che durch­füh­ren. Die­se waren immer von 8 Uhr am Mor­gen bis zum Mit­tag ter­mi­niert. Danach ging es zurück in die Pra­xis, wo ich dann bis 19 oder zeit­wei­se bis 20 Uhr arbei­te­te. Abends beka­men wir die neu­en Kar­tei­kar­ten für die Haus­be­su­che am fol­gen­den Tag. Von der Pra­xis rie­fen wir dann noch die Pati­en­tIn­nen an. Wenn du aber Pech hat­test, und sie nicht errei­chen konn­test, muß­test du es zuhau­se - auf dei­ne eige­nen Kos­ten - noch ein­mal probieren.

Unter Zeit­druck
Da ich den Stadt­teil, wo die Haus­be­su­che statt­fan­den, nicht kann­te, gaben sie mir einen abge­grif­fe­nen Plan. Für jeden Pati­en­ten hat­ten wir 20 Minu­ten zeit. Die Wege­zeit, die uns zur Ver­fü­gung stand, um von einem zum nächs­ten Pati­en­ten zu fah­ren, betrug unab­hän­gig von der Ent­fer­nung auch 20 Minu­ten. Durch geschick­tes Manöv- rie­ren konn­test du das spä­ter in den Griff krie­gen. Am Anfang kam ich jedoch immer zu spät in die Pra­xis zurück, und da die Pati­en­tIn­nen schon da waren, stand ich unter einem  enor­men Zeitdruck.

Nach Fei­er­abend zuhau­se war ich völ­lig erschöpft. Nach einer kur­zen Erho­lungs­pau­se  stell­te ich den Plan für den nächs­ten Tag auf. Gegen 22 Uhr mach­te ich mir dann noch etwas zum Essen, und nach dem Auf­räu­men fiel ich dann um 23.30 Uhr wie ein Toter ins Bett.
Mei­ne Pro­be­zeit war auf 6 Mona­te ange­setzt. Die­se woll­te ich unter allen Umstän­den durch­ste­hen. Hät­te ich nicht soviel Berufs­er­fah­rung gehabt, unter ande­rem zur Befund­er­he­bung, wäre es mir nicht gelun­gen, mich so schnell zurecht zu finden.

Mor­gens, nach dem Stu­di­um mei­nes Ter­min­plans, fuhr ich eine Stun­de frü­her los, um die Zei­ten ein­hal­ten zu kön­nen. Natür­lich ohne Bezah­lung, weil ich ein­fach Angst hat­te, den Job wie­der zu ver­lie­ren. Mei­ne Freun­de zogen mich immer als Vor­zei­ge­ar­bei­ter auf. Mir war das egal, denn sie ken­nen nicht das Gefühl, von Hartz IV abhän­gig zu sein.
Jeden Mor­gen fuhr ich am Job­cen­ter vor­bei. Da stan­den die Arbeits­lo­sen in Reih und Glied, wenn sie eine Ter­min hat­ten. Das aso­zia­le Ver­hal­ten man­cher Job­cen­ter-Ange­stell­ten hat sich tief in mei­nem Gedächt­nis ein­ge­brannt. Wie froh war ich, ein­fach nur dar­an vor­bei fah­ren zu können.

Schlech­tes Betriebsklima
Im Lau­fe der Zeit kam ich sehr schnell in den Betrieb hin­ein. Die Kol­le­gIn­nen schätz­ten mich - auch die an der Rezep­ti­on beschäf­tig­ten Mini-Job­be­rIn­nen. Die Ter­min­pla­nung der Pra­xis war sehr pro­ble­ma­tisch. Da wuß­te oft die rech­te Hand nicht, was die lin­ke machte.
Nor­ma­ler­wei­se hast du „fes­te“ Pati­en­tIn­nen, die du the­ra­pierst. Ein Wech­sel zer­stört das Ver­trau­ens­ver­hält­nis zwi­schen The­ra­peut und Pati­ent. Lei­der kam es den­noch immer wie­der vor, und ich muß­te mir vie­le Beschwer­den anhören. 
Dem­entspre­chend war auch das Betriebs­kli­ma. Es wur­de gemobbt, was das Zeug hält. Wenn die Che­fin mal da war, was ab und zu vor­kam, und Rezep­te von der Kran­ken­kas­se zurück geschickt wur­den, weil sie nicht kor­rekt aus­ge­füllt waren, dann brüll­te sie in ihrem Laden rum, dass die Wän­de wackel­ten. Ihr war es egal, ob dabei Pati­en­tIn­nen anwe­send waren oder nicht.

Als ehe­ma­li­ger Selb­stän­di­ger besaß ich eine beacht­li­che Auto­ri­tät. Bei einer erneu­ten Atta­cke, nahm ich sie zur Sei­te und kri­tie­sier­te sie gewal­tig. Statt dar­auf ein­zu­ge­hen, war die Ant­wort, sie habe kei­ne Zeit und müs­se jetzt weg. Natür­lich beka­men das die Kol­le­gIn­nen mit, und inso­fern stieg ich in ihrem Ansehen.

Fort­set­zung folgt.

aus der Rhein-Neckar Bei­la­ge zur Avan­ti 246, Juli/August 2016
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