Die Tür­kei nach den Wah­len – Was nun?“

Bewahrt ein „sou­ve­rä­ner Diktator“
die Repu­blik vor „ihren Feinden“?

 

S. T.

Der monat­li­che Info­abend der ISO Rhein-Neckar im Juni hat­te die Prä­si­dent­schafts­wah­len in der Tür­kei zum The­ma. Unser Refe­rent befass­te sich in sei­nem ein­lei­ten­den Bei­trag mit den Wider­sprü­chen in dem Land zwi­schen Süd­eu­ro­pa und Vorderasien.

Alevit:innen auf Mannheimer DGB-Demo, 1. Mai 2022. (Foto: helmut-roos@web.de.)

Alevit:innen auf Mann­hei­mer DGB-Demo, 1. Mai 2022. (Foto: helmut-roos@web.de.)

Auch wenn die Bedin­gun­gen für die Durch­füh­rung der bei­den Wahl­gän­ge völ­lig unfair waren, ist es Fakt, dass das Regime tri­um­phiert hat. Weder die Wirt­schafts­kri­se noch die Erd­be­ben und noch weni­ger die Angrif­fe auf die Demo­kra­tie haben die Mehr­heit der Wäh­le­rin­nen und Wäh­ler dazu gebracht, mit Erdo­gan zu bre­chen. Er wird sei­ne Amts­zeit im rie­si­gen Prä­si­den­ten­pa­last nun um wei­te­re fünf auf 26 Jah­re aus­wei­ten können.

Betrach­tet man die der­zei­ti­ge poli­ti­sche Ver­fasst­heit der Tür­kei, dann ist nur noch schwer nach­voll­zieh­bar, dass Erdo­gans Par­tei, die AKP, einst gro­ße Hoff­nun­gen auf demo­kra­ti­sche Refor­men, einen EU-Bei­tritt, fried­li­che Bezie­hun­gen zu den Nach­bar­län­dern und mehr Wohl­stand weck­te. Das kam gut an in einem Land, das von einem grau­sa­men Krieg gegen die Kur­den, gras­sie­ren­der Kor­rup­ti­on, insta­bi­len Koali­ti­ons­re­gie­run­gen und der Vor­herr­schaft des Mili­tärs heim­ge­sucht wurde.

Erdo­gans Machtentfaltung
Doch inzwi­schen hat Erdo­gan nahe­zu alle Berei­che des gesell­schaft­li­chen Lebens, die Ver­wal­tung und den Staats­ap­pa­rat in sei­ne Hand gebracht und wich­ti­ge Pos­ten mit sei­nen Günst­lin­gen besetzt. Auch der größ­te Teil der Medi­en des Lan­des ist unter sei­ner Kon­trol­le, außer­dem die Jus­tiz, das Mili­tär und die Poli­zei. Wider­spruch und Kri­tik wer­den kon­se­quent ver­folgt und unterdrückt.

Sei­ne Anhän­ge­rin­nen und Anhän­ger konn­te Erdo­gan mit einer Poli­tik gewin­nen, die an reli­giö­se Gefüh­le und einen extre­men Natio­nal­stolz appel­liert. In der heu­ti­gen Tür­kei bestimmt der Staats­prä­si­dent, was das „Gemein­wohl“ ist. Für Erdo­gan gehö­ren zum „Gemein­wohl“: die För­de­rung einer „isla­mi­schen“ Gene­ra­ti­on und die Ein­schrän­kung aller ande­ren Lebens­for­men, eine hohe Gebur­ten­ra­te der eth­ni­schen Tür­kin­nen und eine nied­ri­ge der eth­ni­schen Kur­din­nen, die Stär­kung tra­di­tio­nel­ler Geschlech­ter­rol­len und der Kampf gegen sexu­el­le Selbstbestimmung.

Die Exe­ku­ti­ve besteht aus ihm selbst. Er ernennt sei­ne Minis­ter ohne Zustim­mung des Par­la­ments. Er hat in allen Berei­chen der Staats­ver­wal­tung das letz­te Wort. Das Par­la­ment ist fak­tisch sei­ner Stel­lung als Gesetz­ge­ber beraubt. Sei­ne Mög­lich­kei­ten zur Kon­trol­le der Regie­rung sind extrem beschnit­ten. Den Abge­ord­ne­ten kann fast nach Belie­ben die Immu­ni­tät ent­zo­gen werden.

Erdo­gan kur­bel­te die Rüs­tungs­in­dus­trie an und ließ eth­ni­sche „Säu­be­run­gen“ durch­füh­ren. Sie ermög­lich­ten die Nut­zung von Gebie­ten, die zuvor nicht unter der Kon­to­rol­le eth­ni­scher Tür­ken stan­den. Dazu zäh­len die Cûdî- und Gabar-Ber­ge im Süd­os­ten des Lan­des. „Zufäl­lig“ wur­den dort „spä­ter“ gro­ße Erd­öl­re­ser­ven mit einer täg­li­chen För­der­ka­pa­zi­tät von 100.000 Bar­rel entdeckt.

Hem­mungs­lo­se Bereicherung
Wäh­rend das Russ­land-Geschäft der übri­gen NATO-Staa­ten ein­brach, lag das Han­dels­vo­lu­men der Tür­kei mit Russ­land nur sie­ben Mona­te nach Beginn des Über­falls auf die Ukrai­ne um 198 Pro­zent über dem des Vor­jahrs. Im März 2022 rief Erdo­gan Unter­neh­mer dazu auf, ihre Fir­men in die Tür­kei zu ver­la­gern. Im August des­sel­ben Jah­res wur­de ein Gesetz mit dem Namen „Frie­den mit dem Reich­tum“ (Var­lık Barışı) neu auf­ge­legt und auf nicht­tür­ki­sche Staats­bür­ger aus­ge­dehnt. Es ermög­licht den Trans­fer aller beweg­li­chen Ver­mö­gens­wer­te (Devi­sen, Gold etc.) ohne nen­nens­wer­te Steu­ern und ohne jeg­li­che Prü­fung dar­über, wie die­ser Reich­tum ent­stan­den und in die Hän­de sei­ner Besit­zer gelangt ist. Es ist offen­sicht­lich, dass sich durch Erdo­gans Poli­tik sein eige­ner Clan und die kapi­ta­lis­ti­sche Klas­se ins­ge­samt hem­mungs­los bereichern.

Um erfolg­reich sein zu kön­nen, muss der Kampf gegen Erdo­gans Auto­ri­ta­ris­mus mit einem sozia­len, klas­sen­mä­ßi­gen Inhalt aus­ge­stat­tet wer­den. Dies geschieht durch das Ent­wi­ckeln des Klas­sen­be­wusst­seins der Arbei­ten­den, die Fähig­keit zur Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on der Aus­ge­beu­te­ten, die Kämp­fe der Frau­en gegen die patri­ar­cha­li­sche Vor­herr­schaft und durch die Ver­ei­ni­gung der ein­hei­mi­schen und migran­ti­schen Arbei­te­rin­nen und Arbei­ter – sei­en sie tür­ki­scher, kur­di­scher, syri­scher oder afgha­ni­scher Her­kunft. Letz­te­res ist die größ­te Her­aus­for­de­rung für die radi­ka­le Lin­ke. Denn Frei­heit und Gleich­heit kön­nen nur durch die ein­heit­li­che Gegen­macht der arbei­ten­de Klas­se selbst erreicht werden.

Aus Avan­ti² Rhein-Neckar Sep­tem­ber 2023
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