Redaktionelle Vorbemerkung
Internationale Sozialistinnen und Sozialisten sind, wie Ernest Mandel zu sagen pflegte, „ganz bescheidene Leute mit ganz bescheidenen Zielen”.
„Von den tausend Problemen, mit denen sich die Menschen seit ihrem Bestehen konfrontiert sehen“, wollen sie laut Mandel „kaum ein halbes Dutzend lösen:
Hunger, Elend, Mangel an lebenswichtigen Gütern weltweit aufheben;
Warenproduktion und Geldwirtschaft durch eine auf umittelbare Bedürfnisbefriedigung aufgebaute Wirtschaft ersetzen;
Krieg und massenhafte Anwendung von Gewalt unmöglich machen;
jegliche Form von Ausbeutung, Unterdrückung, Knechtung, Vergewaltigung des Menschen durch den Menschen beseitigen;
die Trennung der Gesellschaft in Klassen, und damit auch ihre Trennung in Produzenten und Verwalter, das Privateigentum, das auf private Bereicherung ausgerichtete Konkurrenzstreben, und die ihnen entsprechende Aufspaltung der Menschheit in einander bekämpfende Nationalstaaten aufheben in einem System weltweiter gesamtmenschlicher Kooperation und Solidarität;
jeder Frau, jedem Mann, jedem Kind die materiellen und gesellschaftlichen Voraussetzungen für die volle Verwirklichung ihrer menschlichen Möglichkeiten sichern [und den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen durchsetzen].”
Dies sind knapp zusammengefasst die grundlegenden Positionen unserer weltweiten Organisation, der IV. Internationale. Sie wurde formell am 5. September 1938 in Périgny bei Paris gegründet.
Die anwesenden Delegierten befürworteten damals auch die Annahme eines im Wesentlichen von Leo Trotzki verfassten „Übergangsprogramms“. Es beruht auf dem durch vielfältige soziale und politische Erfahrungen beruhenden Wissen, dass nur konsequent handelnde Massenbewegungen grundlegende Veränderungen durchsetzen können.
In dem folgenden Auszug aus dem „Übergangsprogramm“ wird der „Kampf gegen Imperialismus und Krieg“ thematisiert.
Wir veröffentlichen ihn in dieser Beilage nicht aus dogmatischen Gründen oder wegen eines Hangs zur Buchstabengläubigkeit. Wir sind vielmehr überzeugt davon, dass uns die Kenntnis dieses grundsätzlichen Textes und die kritische Auseinandersetzung mit ihm bei der Suche nach aktuellen Antworten auf den Ukraine-Krieg und die Kriegstreiber in Ost und West weiterhilft.
W. A., 24. April 2022
Der Kampf gegen Imperialismus und Krieg*
Die gesamte Weltlage und demzufolge auch das innere politische Leben der einzelnen Länder stehen unter der Drohung des Weltkriegs. Die bevorstehende Katastrophe erfüllt schon den allergrößten Teil der Menschheit mit Angst.
Die II. Internationale wiederholt ihre verräterische Politik von 1914 mit umso größerer Dreistigkeit, als jetzt die Komintern [die „Kommunistische“ Internationale] die erste Geige des Chauvinismus spielt. Kaum hatte die Kriegsgefahr eine konkrete Gestalt angenommen, machten sich die Stalinisten zu den eifrigsten Verfechtern der sogenannten „nationalen Verteidigung“ und ließen dabei die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Pazifisten weit hinter sich. Von dieser Politik nehmen sie nur die faschistischen Länder aus, d. h. diejenigen Länder, wo sie selbst überhaupt keine Rolle spielen. Der revolutionäre Kampf gegen den Krieg ruht somit alleine auf den Schultern der IV. Internationale.
Die Politik der Bolschewiki-Leninisten in dieser Frage, die in den programmatischen Thesen des Internationalen Sekretariats formuliert worden ist, besitzen noch heute ihre volle Gültigkeit (Die 4. Internationale und der Krieg, Brüssel 1934). Der Erfolg einer revolutionären Partei wird in der nächsten Periode vor allem von ihrer Politik in der Kriegsfrage abhängen. Eine korrekte Politik umfaßt zwei Elemente: eine unversöhnliche Haltung gegenüber dem Imperialismus und seinen Kriegen und die Fähigkeit, sich auf die Erfahrung der Massen selbst zu stützen.
Die Bourgeoisie und ihre Agenten benutzen die Kriegsfrage mehr als jedes andere Problem, um das Volk mit Hilfe von Abstraktionen, allgemeinen Formeln und pathetischen Phrasen zu betrügen: „Neutralität“, „kollektive Sicherheit“, „Kampf gegen den Faschismus“ usw. Alle diese Formeln laufen darauf hinaus, daß letztlich die Entscheidung über Krieg und Frieden, d. h. das Schicksal der Völker, in den Händen der Imperialisten bleibt, ihrer Regierungen, ihrer Diplomatie, ihrer Generäle mit all ihren Intrigen und Geheimplänen gegen die Völker.
Die IV. Internationale weist mit Abscheu all diese Abstraktionen zurück, die im demokratischen Lager die gleiche Rolle spielen wie „Ehre“, „Blut“, „Rasse“ im faschistischen. Aber Abscheu genügt nicht. Mit Hilfe eindeutiger Kriterien, Parolen und Übergangsforderungen muß den Massen geholfen werden, den konkreten Kern dieser betrügerischen Abstraktionen zu erkennen.
„Abrüstung“? Aber alles dreht sich um die Frage, wer wen abrüstet. Die einzige Form der Abrüstung, die den Krieg verhindern oder beenden kann, ist die Entwaffnung der Bourgeoisie durch die Arbeiter. Aber um die Bourgeoisie zu entwaffnen, müssen sich die Arbeiter selbst bewaffnen.
„Neutralität“? Aber das Proletariat ist auf keinen Fall neutral in einem Krieg zwischen Japan und China oder zwischen Deutschland und der UdSSR. Bedeutet das die Verteidigung Chinas und der UdSSR? Selbstverständlich! Aber nicht durch die Vermittlung der Imperialisten, die sowohl China als auch die UdSSR erdrosseln würden.
„Verteidigung des Vaterlandes“? Aber unter dieser Abstraktion versteht die Bourgeoisie die Verteidigung ihrer Profite und Plünderungen. Wir sind dazu bereit, das Vaterland gegen die ausländischen Kapitalisten zu verteidigen, wenn wir zuvor unseren eigenen Kapitalisten die Hände gebunden haben und sie daran hindern, das Vaterland anderer anzugreifen; wenn die Arbeiter und Bauern unseres Landes seine wirklichen Herren werden; wenn die Reichtümer des Landes aus den Händen einer verschwindenden Minderheit in die Hände des Volkes übergehen; wenn die Armee statt einer Waffe der Ausbeuter zu einer Waffe der Ausgebeuteten wird.
Man muß diese Grundideen in einzelne konkretere und detailliertere Gedanken übersetzen, je nach dem Verlauf der Ereignisse sowie der Bewußtseinsentwicklung der Massen. Außerdem muß man streng unterscheiden zwischen dem Pazifismus eines Diplomaten, Professors oder Journalisten und dem Pazifismus eines Zimmermanns, Landarbeiters oder einer Putzfrau. Im ersten Fall ist der Pazifismus nichts anderes als eine Tarnung des Imperialismus; im zweiten der unklare Ausdruck des Mißtrauens gegenüber dem Imperialismus. Wenn ein Kleinbauer oder Arbeiter von der Verteidigung des Vaterlandes spricht, denkt er dabei an die Verteidigung seines Hauses, seiner Familie und anderer ähnlicher Familien gegen Invasion, Bomben und Giftgas. Der Kapitalist und sein Journalist verstehen unter Verteidigung des Vaterlandes die Eroberung von Kolonien und Märkten, die räuberische Vergrößerung des „nationalen“ Anteils am Welteinkommen. Bürgerlicher Pazifismus und Patriotismus sind reiner Betrug. Im Pazifismus und selbst im Patriotismus der Unterdrückten sind Elemente enthalten, die einerseits den Haß gegen den zerstörerischen Krieg und andererseits ein Festhalten an dem vermeintlichen eigenen Wohl ausdrücken, Elemente, die man verstehen können muß, um daraus die notwendigen revolutionären Konsequenzen zu ziehen. Man muß diese beiden Formen des Pazifismus und des Patriotismus einander gegenüber stellen.
Ausgehend von diesen Überlegungen unterstützt die IV. Internationale jede, selbst eine unzureichende Forderung, wenn sie geeignet ist, in einem bestimmten Maß die Massen in aktive Politik einzubeziehen, ihre Kritik zu wecken und ihre Kontrolle über die Machenschaften der Bourgeoisie zu stärken.
In diesem Sinne unterstützt unsere amerikanische Sektion zum Beispiel kritisch den Vorschlag, einen Volksentscheid über die Frage der Kriegserklärung durchzuführen. Keine demokratische Reform an sich kann selbstverständlich die Herrschenden daran hindern, einen Krieg vom Zaun zu brechen, wann immer sie wollen. Davor muß man offen warnen. Aber welche Illusionen auch die Massen bezüglich des Volksentscheids haben mögen, diese Forderung spiegelt das Mißtrauen der Arbeiter und der Bauern gegenüber der bürgerlichen Regierung und dem Kongreß wider. Ohne diese Illusionen zu unterstützen oder über sie hinwegzusehen, muß man mit allen Kräften das wachsende Mißtrauen der Unterdrückten gegen die Unterdrücker stärken. Je mächtiger sich die Bewegung für den Volksentscheid entwickelt, um so schneller werden sich von ihr die bürgerlichen Pazifisten trennen, um so eindeutiger werden sich die Verräter der Komintern bloßgestellt sehen und umso stärker wird das Mißtrauen gegen die Imperialisten sein.
Vom gleichen Gesichtspunkt aus muß die Forderung nach dem Wahlrecht für Männer und Frauen ab 18 Jahren erhoben werden. Wen man morgen dazu ruft, für das „Vaterland“ zu sterben, der muß heute das Recht haben, seine Stimme abzugeben. Der Kampf gegen den Krieg muß zu allererst mit der revolutionären Mobilisierung der Jugend beginnen.
Man muß das Problem des Krieges von allen Seiten beleuchten, dabei aber immer den Aspekt herausstellen, mit dem sich die Massen jeweils konfrontiert sehen.
Der Krieg ist ein gigantisches kommerzielles Unternehmen, vor allem für die Rüstungsindustrie. Deshalb sind die „60 Familien“ die hervorragendsten Patrioten und die Hauptkriegstreiber. Die Arbeiterkontrolle über die Kriegsindustrie ist der erste Schritt im Kampf gegen die „Fabrikanten“ des Krieges.
Der Losung der Reformisten nach Besteuerung der Kriegsgewinne setzten wir die Losung entgegen: Beschlagnahme der Kriegsgewinne und Enteignung der Rüstungsindustrie. Wo die Rüstungsindustrie – wie in Frankreich – bereits „nationalisiert“ ist, behält die Losung der Arbeiterkontrolle ihre volle Geltung. Das Proletariat vertraut dem bürgerlichen Staat der Bourgeoisie ebensowenig wie dem einzelnen Kapitalisten.
Keinen Mann und keinen Groschen für die bürgerliche Regierung!
Kein Aufrüstungsprogramm, sondern ein Programm gemein- nütziger öffentlicher Arbeiten!
Vollkommene Unabhängigkeit der Arbeiterorganisationen von militärischer und polizeilicher Kontrolle!
Die Entscheidung über das Schicksal der Völker muß ein für alle Mal den Händen der raubgierigen und unerbittlichen imperialistischen Cliquen entrissen werden, die hinter dem Rücken der Völker ihre Pläne schmieden.
In Übereinstimmung damit fordern wir:
Vollständige Abschaffung der Geheimdiplomatie; alle Verträ ge und Übereinkünfte müssen jedem Arbeiter und Bauern zu- gänglich sein.
Militärische Ausbildung und Bewaffnung der Arbeiter und Bauern unter der unmittelbaren Kontrolle der Arbeiter- und Bauernkomitees.
Schaffung von Militärschulen für die Ausbildung von Offizie ren aus den Reihen der Werktätigen, die von den Arbeiteror ganisationen gewählt werden.
Ersetzung des stehenden Heeres durch eine untrennbar mit den Betrieben, Bergwerken, Bauernhöfen usw. verbundenen Volksmiliz.
Der imperialistische Krieg ist die Fortsetzung und Verschärfung der Raubpolitik der Bourgeoisie. Der Kampf des Proletariats gegen den Krieg ist die Fortsetzung und Verschärfung seines Klassenkampfes. Der Kriegsausbruch verändert die Umstände und zum Teil die Methoden des Kampfes zwischen den Klassen, nicht aber dessen Ziele oder dessen Grundrichtung.
Die imperialistische Bourgeoisie beherrscht die Welt. Deshalb wird der kommende Krieg wesentlich ein imperialistischer Krieg sein. Der fundamentale Inhalt der Politik des internationalen Proletariats wird folglich der Kampf gegen den Imperialismus und dessen Krieg sein. Das Grundprinzip dieses Kampfes lautet: „Der Hauptfeind steht im eigenen Land.“ Oder: „Die Niederlage der eigenen (imperialistischen) Regierung ist das kleinere Übel“.
Aber nicht alle Länder der Welt sind imperialistisch. Im Gegenteil, die meisten sind Opfer des Imperialismus. Bestimmte koloniale oder halbkoloniale Länder werden ohne Zweifel versuchen, den Krieg auszunützen, um das Joch abzuwerfen. Für sie wird der Krieg kein imperialistischer, sondern ein Befreiungskrieg sein. Es wird die Pflicht des internationalen Proletariats sein, unterdrückten Ländern im Krieg gegen die Unterdrücker zu helfen. Dieselbe Pflicht besteht auch gegenüber der Sowjetunion oder jedem anderen Arbeiterstaat, der vor oder während des Krieges entstehen mag. Die Niederlage jeder imperialistischen Regierung im Kampf gegen einen Arbeiterstaat oder ein Kolonialland ist das kleinere Übel.
Die Arbeiter eines imperialistischen Landes können jedoch einem antiimperialistischen Land nicht mittels ihrer eigenen Regierung helfen, unabhängig davon, welche diplomatischen und militärischen Beziehungen beide Länder gerade unterhalten. Wenn die Regierungen ein zeitweiliges und der Natur der Sache nach unsicheres Bündnis geschlossen haben, bleibt das Proletariat des imperialistischen Landes in Klassenopposition gegenüber seiner Regierung und unterstützt den nicht-imperialistischen „Verbündeten“ durch seine eigenen Methoden, d. h. durch die Methoden des internationalen Klassenkampfes (Agitation nicht nur gegen die verräterischen Verbündeten, sondern auch für einen Arbeiterstaat in dem Kolonialland; Boykott und Streik in bestimmten Fällen, Verzicht auf Streik und Boykott in anderen usw.).
Wenn das Proletariat ein Kolonialland oder die UdSSR im Krieg unterstützt, solidarisiert es sich nicht im geringsten mit der bürgerlichen Regierung des Koloniallandes oder der thermidorianischen Bürokratie in der Sowjetunion. Im Gegenteil, es bewahrt beiden gegenüber seine völlige politische Unabhängigkeit. Indem das revolutionäre Proletariat einen gerechten und fortschrittlichen Krieg unterstützt, erobert es sich die Sympathien der Werktätigen in den Kolonien und in der UdSSR, festigt dort die Autorität und den Einfluß der IV. Internationale und kann umso besser den Sturz der bürgerlichen Regierung im Kolonialland und der reaktionären Bürokratie in der UdSSR fördern.
Am Anfang des Krieges werden die Sektionen der IV. Internationale unvermeidlich isoliert sein: Jeder Krieg überrascht die Volksmassen und drängt sie an die Seite des Regie- rungsapparates. Die Internationalisten werden gegen den Strom schwimmen müssen. Doch werden die Verwüstungen und Leiden des neuen Krieges, die schon in den ersten Monaten die blutigen Schrecken von 1914 bis 1918 weit hinter sich lassen werden, die Massen bald ernüchtert haben. Die Unzufriedenheit der Massen und ihr Aufruhr wird sprunghaft wachsen. Die Sektionen der IV. Internationale werden an der Spitze der revolutionären Strömung zu finden sein. Das Programm der Übergangsforderungen wird brandaktuell sein. Das Problem der Machteroberung durch das Proletariat wird in seiner ganzen Bedeutung sichtbar werden.
Bevor der Kapitalismus die Menschheit völlig erschöpft oder in Blut ertränkt, wird er die Weltatmosphäre mit den giftigen Dämpfen des Völker- und Rassenhasses verseuchen. Der Antisemitismus ist heute eine der bösartigsten Zuckungen im Todeskampf des Kapitalismus.
Die unerbittliche Enthüllung der Wurzeln von Rassenvorurteilen und aller Formen und Schattierungen nationaler Überheblichkeit und des Chauvinismus, insbesondere des Anti- semitismus, muß als wichtigster Bestandteil des Kampfes gegen Imperialismus und Krieg in die Tagesarbeit aller Sektionen der IV. Internationale eingehen. Unsere Hauptlosung bleibt: „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“