Die „mensch­li­chen Kos­ten“ aus­ge­blie­be­ner Revolutionen*

Ernest Man­del


Im November/Dezember 1918 und im März 1920 stand ein Räte­deutsch­land auf der Tages­ord­nung. Die Zusam­men­ar­beit von Mehr­heits­so­zi­al­de­mo­kra­tie, Mili­tär und bür­ger­li­chen Eli­ten – sowie die Tat­sa­che der noch unrei­fen und zu schwa­chen Füh­rung der Revo­lu­ti­on – hat die Nie­der­la­ge von 1918-19 und des revo­lu­tio­nä­ren Ansat­zes von 1920 verursacht.

Für die­se ver­pass­te Revo­lu­ti­on haben die deut­sche Arbei­te­rIn­nen­klas­se, gro­ße Tei­le der übri­gen Bevöl­ke­rung und die gan­ze Welt einen hohen Preis bezahlt.

Selbst­ver­ständ­lich kann mensch einen rea­len his­to­ri­schen Pro­zess nicht durch einen ima­gi­nä­ren erset­zen, aus­ge­hend von der For­mel: „Was wäre gesche­hen, wenn…“. Aber es ist durch­aus mög­lich, alter­na­ti­ve objek­ti­ve Mög­lich­kei­ten empi­risch plau­si­bel zu machen.

Zwar spie­len bei Revo­lu­tio­nen und Kon­ter­re­vo­lu­tio­nen Klas­sen, bedeut­sa­me Klas­sen­frak­tio­nen und Par­tei­en die entsch­ei- den­de Rol­le. Aber Klas­sen und Par­tei­en bestehen aus Men­schen, jedeR Ein­zel­ne mit der ihm eige­nen Sub­jek­ti­vi­tät. Und „Füh­rungs­per­sön­lich­kei­ten“ spie­len im Auf­stieg wie im Nie­der­gang von Revo­lu­tio­nen eine zen­tra­le Rol­le, und zwar, weil an ent­schei­den­den Umschlag­punk­ten des his­to­ri­schen Pro­zes­ses der sub­jek­ti­ve Fak­tor – Ein­sicht, Ent­schei­dungs­kraft, Fähig­keit, die Inter­es­sen der Klas­se deut­lich zum Aus­druck zu brin­gen, Fähig­keit, sie zum Han­deln mit­zu­rei­ßen usw. – eine Schlüs­sel­rol­le spielt.

Fünf The­sen
Die fol­gen­den fünf The­sen dürf­ten mehr als blo­ße Spe­ku­la­tio­nen, sie dürf­ten empi­risch beweis­bar sein:

1. Die geschla­ge­ne deut­sche Revo­lu­ti­on von 1918/19 bzw. die erwürg­ten revo­lu­tio­nä­ren Mög­lich­kei­ten von 1920 und 1923 waren ein Wen­de­punkt in der Geschich­te des 20. Jahr­hun­derts. Eine sieg­rei­che Revo­lu­ti­on in Deutsch­land und deren Zusam- men­ar­beit mit der rus­si­schen Revo­lu­ti­on in den ers­ten Mona­ten und Jah­ren nach dem Zusam­men­bruch des wil­hel­mi­ni­schen Rei­ches wur­de von den Zeit­ge­nos­sen als rea­lis­tisch betrach­tet; von der inter­na­tio­na­len Kon­ter­re­vo­lu­ti­on viel­leicht noch stär­ker als von der Kom­mu­nis­ti­schen Inter­na­tio­na­le. Mensch braucht sich nur die Äuße­run­gen des bri­ti­schen Poli­ti­kers Win­s­ton Chur­chill und des fran­zö­si­schen Mar­schalls Fer­di­nand Foch anzusehen.

2. Die Ver­ei­ni­gung der sieg­rei­chen Okto­ber­re­vo­lu­ti­on mit einer sieg­rei­chen Revo­lu­ti­on in Deutsch­land und Öster­reich hät­te ganz Mit­tel- und Ost­eu­ro­pa ein­schließ­lich Ita­li­en sozia­lis­tisch umge­stal­tet. Auch ohne Aus­deh­nung auf Frank­reich oder Eng­land hät­te die­ser sozia­lis­ti­sche Staa­ten­bund die Geschich­te Euro­pas und der gan­zen Welt in ande­re Bah­nen gelenkt.

3. Der Sieg der büro­kra­ti­schen Dik­ta­tur in Sowjet­russ­land wäre unwahr­schein­lich gewor­den. Ent­schei­dend für das wach­sen­de Erlah­men der Selbst­tä­tig­keit der sowje­ti­schen Arbei­te­rIn­nen­klas­se ab 1920 und damit für den Sieg der sta­li­nis­ti­schen Dik­ta­tur waren zum einen – kriegs- und bür­ger­kriegs­ver­ur­sacht – der Hun­ger und die Des­or­ga­ni­sa­ti­on der Wirt­schaft, zum ande­ren die schwin­den­de Hoff­nung in Sowjet­russ­land auf die Weltrevolution.

Die­se bei­den ent­schei­den­den Momen­te für den Sieg der büro­kra­ti­schen Dik­ta­tur wären durch eine Ver­schmel­zung eines Räte­deutsch­lands mit Sowjet­russ­land weit­ge­hend zu ver­mei­den gewe­sen. Die deut­sche Indus­trie und der rus­si­sche Markt, unter Füh­rung der arbei­ten­den Klas­se ver­ei­nigt, hät­ten die schlimms­te Mise­re rasch auf­he­ben können.

Revolutionäre Demonstranten am 09. November 1918 in Berlin, Unter den Linden (Foto: Bundesarchiv, Bild 183-18594-0045 / CC BY-SA 3.0 DE [CC BY-SA 3.0 de (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en)])

Revo­lu­tio­nä­re Demons­tran­ten am 09. Novem­ber 1918 in Ber­lin, Unter den Lin­den (Foto: Bun­des­ar­chiv, Bild 183-18594-0045 / CC BY-SA 3.0 DE [CC BY-SA 3.0 de (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en)])

4. Die Ver­hee­run­gen der gro­ßen Welt­wirt­schafts­kri­se ab 1929 wären brei­ten Tei­len Euro­pas erspart geblieben.

5. Die Kri­se der Kolo­ni­al­rei­che wäre zwan­zig Jah­re frü­her zum Aus­bruch gekom­men. Min­des­tens hun­dert Mil­lio­nen Men­schen, die in der Zeit zwi­schen 1918 und 1945 welt­weit elend zugrun­de gin­gen, wären am Leben geblieben.

Das ist der Umfang der welt­ge­schicht­li­chen Tra­gö­die der ver­pass­ten deut­schen Revo­lu­ti­on 1918/19: Es hät­te weder Sta­lin noch Hit­ler, weder Ausch­witz noch den Gulag, wahr­schein­lich auch nicht den Zwei­ten Welt­krieg gegeben.

* [Die­ser Arti­kel wur­de der Avan­ti von Novem­ber 2008 ent­nom­men. Quel­le: Ernest Man­del, Drei Nie­der­la­gen der deut­schen Revo­lu­ti­on: Eine welt­ge­schicht­li­che Tra­gö­die; in: Jakob Mone­ta, Mehr Macht für die Ohn­mäch­ti­gen, Reden und Auf­sät­ze, Frankfurt/Main, 1991. S.7 ff., Bear­bei­tung: J. A.¸ Red.]

Aus Avan­ti² Rhein-Neckar Janu­ar 2019
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