Covid-19-Pan­de­mie:

Unse­re Leben sind mehr wert als ihre Profite!

(Erklä­rung von euro­päi­schen Orga­ni­sa­tio­nen der Vier­ten Internationale)

 

Euro­pa und ins­be­son­de­re die Euro­päi­sche Uni­on ‒ der zweit­größ­te Wirt­schafts­block der Welt ‒ stel­len Tag für Tag unter Beweis, dass die in den letz­ten zwan­zig Jah­ren ver­folg­te Poli­tik der Regie­run­gen die Struk­tu­ren des öffent­li­chen Gesund­heits­we­sens unter­gra­ben hat. Des­halb kann die Covid-19-Pan­de­mie nicht wirk­sam ein­ge­dämmt wer­den. Im März befand sich die­ser Erd­teil im Her­zen der Pan­de­mie. Jetzt sind die USA an der Rei­he, und mor­gen Afri­ka, Latein­ame­ri­ka und Asi­en mit immer grö­ße­ren Risi­ken für Mil­lio­nen von Men­schen in Län­dern mit schlech­ten Gesundheitsstrukturen.

20 Jah­re hin­durch wur­den Kran­ken­häu­ser geschlos­sen, Stel­len von Ärzt*innen und Krankenpfleger*innen sowie Zehn­tau­sen­de von Inten­siv­pfle­ge- und Reani­ma­ti­ons­bet­ten gestri­chen. Damit soll­ten die Vor­ga­ben der „Spar“-Haushalte und die Logik des neo­li­be­ra­len Kapi­ta­lis­mus umge­setzt wer­den: die Ver­rin­ge­rung des Anteils der sozia­len Siche­rung am Brutto-Inlands-Produkt.

Abge­se­hen von Bel­gi­en, Deutsch­land, Luxem­burg und Öster­reich haben die ande­ren Län­der nur 4 bis 11 Inten­siv­bet­ten pro 100 000 Einwohner*innen, wobei Por­tu­gal und Grie­chen­land die nied­rigs­ten Zah­len auf­wei­sen. In die­sen bei­den Län­dern ist es im letz­ten Jahr­zehnt eben­so wie im Spa­ni­schen Staat, Frank­reich und Groß­bri­tan­ni­en wie­der­holt zum plan­mä­ßi­gen Abbau von Kran­ken­haus­bet­ten gekommen.

Ausschnitt aus Diego Riveras Fresko "Die Orgie", Mexico-City 1928 (Bildnachweis: Privat)

Aus­schnitt aus Die­go Rive­ras Fres­ko “Die Orgie”, Mexi­co-City 1928 (Bild­nach­weis: Privat)

Die­se Poli­tik, die in den letz­ten Jah­ren von Beschäf­tig­ten im Gesund­heits­we­sen immer wie­der scharf kri­ti­siert wur­de, hat zu einer kata­stro­pha­len Kür­zung von Res­sour­cen geführt, die zur Bekämp­fung der Pan­de­mie erfor­der­lich sind. Ita­li­en und Frank­reich haben bereits ihre maxi­ma­le Kapa­zi­tät auf den Inten­siv­sta­tio­nen erreicht oder über­schrit­ten. Ande­re Län­der wer­den in den kom­men­den Wochen mit der glei­chen Situa­ti­on kon­fron­tiert sein. Die Regie­run­gen haben über­all nur zöger­lich Schrit­te unter­nom­men, um die­sen Man­gel durch die Beschaf­fung von not­wen­di­gem Schutz­ma­te­ri­al (Mas­ken, Des­in­fek­ti­ons­mit­tel), wich­ti­gen Hilfs­mit­teln (Bet­ten, Beatmungs­ge­rä­te) und durch die Not­fall-Rekru­tie­rung von Kran­ken­haus­per­so­nal zu behe­ben. Selbst in Deutsch­land wur­den in den ver­gan­ge­nen bei­den Jahr­zehn­ten Hun­dert­tau­sen­de von Bet­ten abge­baut, und das Ver­hält­nis von Kran­ken­pfle­ge­kräf­ten zu Patient*innen zeigt, dass min­des­tens 110.000 Pfleger*innen fehlen.

Was die Regie­run­gen und die Unternehmer*innen in Euro­pa in ers­ter Linie umtreibt, ist das Schreck­ge­spenst der Rezes­si­on und die Auf­recht­erhal­tung von maxi­ma­ler Pro­duk­ti­on. Als Not­fall­maß­nah­men zum Schutz der Bevöl­ke­rung ver­hängt wur­den, sind meh­re­re Regie­run­gen mit wider­sprüch­li­chen Ver­fü­gun­gen vor­ge­gan­gen und tun dies immer noch. In meh­re­ren Län­dern waren sie zu Recht gezwun­gen, Ent­schei­dun­gen über Ein­schrän­kun­gen für die gesam­te Bevöl­ke­rung zu tref­fen, um die Aus­brei­tung des Virus zu ver­lang­sa­men. Jedoch dräng­ten sie wei­ter auf die Auf­recht­erhal­tung der maxi­ma­len wirt­schaft­li­chen Akti­vi­tät. Das hat die Gesund­heits­ge­fähr­dung von Arbeiter*innen sogar in Bran­chen wie Auto­mo­bil­pro­duk­ti­on, Bau­ge­wer­be, Rüs­tungs­in­dus­trie oder Schiffs­bau zur Fol­ge. Dar­über hin­aus haben die Beschäf­tig­ten in den lebens­not­wen­di­gen Berei­chen (Lebens­mit­tel­pro­duk­ti­on und -ver­tei­lung, Stra­ßen­trans­port, öffent­li­cher Ver­kehr, medi­zi­ni­sches und pfle­gen­des Per­so­nal in Pfle­ge­hei­men) kei­ne aus­rei­chen­den per­sön­li­chen Schutz­aus­rüs­tun­gen. Selbst die EU-Rah­men­richt­li­nie zu Sicher­heit und Gesund­heits­schutz bei der Arbeit wird weit­ge­hend ignoriert.

Ausschnitt aus Diego Riveras Fresko "Die Weisen", Mexico-City 1928 (Bildnachweis: Privat)

Aus­schnitt aus Die­go Rive­ras Fres­ko “Die Wei­sen”, Mexi­co-City 1928 (Bild­nach­weis: Privat)

Eini­ge Län­der haben Ver­ord­nun­gen erlas­sen, durch die „nicht wesent­li­che Tätig­kei­ten“ unter­sagt wer­den. Die­se sind aber immer mit dem Bestre­ben ver­bun­den, den größ­ten Teil der Pro­duk­ti­on auf­recht­zu­er­hal­ten. Frank­reich und Ita­li­en haben bestimm­te Ent­las­sun­gen ver­bo­ten, aber die­se Maß­nah­men sind nur von begrenz­ter Trag­wei­te. Im Spa­ni­schen Staat müs­sen die von Betriebs­still­le­gun­gen betrof­fe­nen Beschäf­tig­ten die nicht geleis­te­ten Arbeits­stun­den nach der Wie­der­eröff­nung der Betrie­be nach­ho­len. Aller­dings hat es in den letz­ten Wochen bereits 1,5 Mil­lio­nen Ent­las­sun­gen gege­ben, 500 000 davon in Kata­lo­ni­en. In Ita­li­en gab es einen star­ken Druck des Unter­neh­mer­ver­bands Con­f­in­dus­tria, in den meis­ten Wirt­schafts­sek­to­ren die Pro­duk­ti­on wie bis­her fort­zu­set­zen. Jedoch haben Arbeiter*innen und kämp­fe­ri­sche Gewerk­schaf­ten die Regie­rung gezwun­gen, die Zahl der Sek­to­ren, in denen wei­ter­ge­ar­bei­tet wer­den darf, teil­wei­se zu redu­zie­ren. Der­zeit genügt den­noch selbst in den am stärks­ten von der Pan­de­mie betrof­fe­nen Gebie­ten eine ein­fa­che Erklä­rung gegen­über den ört­li­chen Poli­zei­be­hör­den, damit vie­le Fabri­ken und Betrie­be wei­ter­ar­bei­ten kön­nen. Aber auch der Wider­stand der Arbeiter*innen hält an. In Frank­reich ist die Pro­duk­ti­on viel­fach wegen feh­len­der Tei­le oder aus­rei­chen­der Absatz­mög­lich­kei­ten gestoppt wor­den. PSA und Renault ver­su­chen nun, die Pro­duk­ti­on wie­der maxi­mal hoch­zu­fah­ren. Die fran­zö­si­sche Arbeits­mi­nis­te­rin höchst­per­sön­lich hat den größt­mög­li­chen Druck auf die Bau­in­dus­trie und den Infra­struk­tur-Bereich aus­ge­übt, ihre Tätig­kei­ten wie­der aufzunehmen.

Mil­lio­nen von Beschäf­tig­ten sind ent­las­sen oder auf Kurz­ar­beit mit Lohn­ab­zü­gen gesetzt wor­den. Pre­kä­re und befris­te­te Ver­trä­ge wur­den nicht ver­län­gert. Auch Mil­lio­nen von Schein­selb­stän­di­gen, die nicht den Sta­tus von Fest­an­ge­stell­ten hat­ten, waren plötz­lich ohne Arbeit und ohne Ein­kom­men. Aber für alle ste­hen sämt­li­che lau­fen­den Aus­ga­ben und Raten­zah­lun­gen an, die begli­chen wer­den müs­sen. Alle arbei­ten­den Men­schen müs­sen ihr Ein­kom­men unab­hän­gig von ihrem Sta­tus (Lohn- und Gehaltsempfänger*innen, Selb­stän­di­ge, Arbeits­lo­se, Zeitarbeiter*innen, Saisonarbeiter*innen usw.) zu 100 % garan­tiert bekom­men. Es braucht ein garan­tier­tes Mini­mum für alle, das sich nach den Lebens­hal­tungs­kos­ten im jewei­li­gen Land rich­tet. Gewin­ne und Divi­den­den müs­sen zur Finan­zie­rung die­ser Maß­nah­men ver­wen­det werden.

Ausschnitt aus Diego Riveras Fresko "Die Genossenschaft", Mexico-City 1928 (Bildnachweis: Privat)

Aus­schnitt aus Die­go Rive­ras Fres­ko “Die Genos­sen­schaft”, Mexi­co-City 1928 (Bild­nach­weis: Privat)

Arbei­ten­de, die unter pre­kä­ren Bedin­gun­gen leben, Obdach­lo­se und Frau­en sind als ers­te von der Aus­brei­tung von Covid-19 und sei­ner Ein­däm­mung betrof­fen. Pre­kä­re Wohn­ver­hält­nis­se, beeng­te und unge­sun­de Behau­sun­gen sor­gen dafür, dass Aus­gangs­sper­ren für die Rei­chen und für die Armen jeweils etwas ganz ande­res bedeu­ten. In Ita­li­en und Frank­reich haben die Wohl­ha­ben­den die Gebie­te ver­las­sen, in denen die Anste­ckungs­ge­fahr am stärks­ten ist, und sich in weni­ger gefähr­de­te Gebie­te zurückgezogen.

Die rus­si­schen Behör­den haben repres­si­ve Maß­nah­men ergrif­fen. Bei Ver­stö­ßen gegen die Qua­ran­tä­ne ver­hän­gen sie hohe Geld­stra­fen. Die Infra­struk­tur für Video­über­wa­chung und Poli­zei­kon­trol­len wur­de ver­stärkt. Jed­we­de Unter­stüt­zung für Mil­lio­nen von Beschäf­tig­ten in klei­nen oder mitt­le­ren Fir­men, die ihr Ein­kom­men oder ihre Arbeits­plät­ze ver­lo­ren haben, wird abge­lehnt. Drei Mil­lio­nen Arbeitsmigrant*innen aus Zen­tral­asi­en, die nicht nach Hau­se zurück­keh­ren kön­nen und von denen vie­le ihre Jobs ver­lo­ren haben, sind in einer äußerst schwie­ri­gen Lage. Die Aus­deh­nung der Infek­ti­on droht zu hohen Zah­len von Todes­fäl­len zu füh­ren. Das geht zum größ­ten Teil auf das bru­ta­le neo­li­be­ra­le Pro­gramm zur „Opti­mie­rung“ der Kran­ken­häu­ser zurück, das in den letz­ten Jah­ren von der rus­si­schen Regie­rung umge­setzt wor­den ist.

Häus­li­che Gewalt und Frau­en­mor­de wer­den in einem sol­chen Kon­text zunehmen.

In Gefäng­nis­sen wie in Ita­li­en und Frank­reich sind die Inhaf­tier­ten und das Per­so­nal ohne Schutz­aus­rüs­tun­gen mit Über­be­le­gun­gen konfrontiert.

Migrant*innen, ins­be­son­de­re die­je­ni­gen, die zwi­schen Grie­chen­land und der Tür­kei gestran­det sind, aber auch die­je­ni­gen, die in Lagern zusam­men­ge­pfercht wer­den, sind auf­grund ihres pre­kä­ren kör­per­li­chen Zustands noch stär­ker gefähr­det. In den meis­ten Län­dern sind sie ohne Unter­stüt­zung von Nicht­re­gie­rungs­or­ga­ni­sa­tio­nen, ohne Nah­rungs­mit­tel­hil­fe und in Zen­tren ein­ge­sperrt, in denen kei­ne Schutz­maß­nah­men ange­wen­det wer­den kön­nen. Por­tu­gal hat beschlos­sen, die auf sei­nem Boden befind­li­chen Flücht­lin­ge vor­über­ge­hend einen regu­lä­ren Sta­tus zu gewäh­ren. Das betrifft aber nur die­je­ni­gen, die bereits einen ent­spre­chen­den, von den Behör­den bestä­tig­ten Antrag gestellt haben.

Mehr noch als ande­re Men­schen sind Migrant*innen mit einer bei­spiel­lo­sen exis­ten­zi­el­len Kri­se kon­fron­tiert, die Ein­kom­men, Arbeits­plät­ze, Wohn­ver­hält­nis­se und Hun­ger betrifft. Ein­rich­tun­gen der „Wohl­fahrt“ bre­chen für sehr gro­ße unter­schied­li­che benach­tei­lig­te Grup­pen der Bevöl­ke­rung zusam­men - ein­hei­mi­sche oder migran­ti­sche ein­schließ­lich der Geflüchteten.

Migrant*innen und Men­schen mit migran­ti­scher Abstam­mung sind zudem als Arbeits­kräf­te in den lebens­wich­ti­gen Berei­chen stark ver­tre­ten: Gesund­heit und Pfle­ge, öffent­li­cher Ver­kehr, Nah­rungs­mit­tel­pro­duk­ti­on- und Ver­tei­lung sowie Rei­ni­gung. Die­se Berei­che sind zugleich sehr weit­ge­hend feminisiert.

Die Pan­de­mie ver­schärft die Klas­sen­dis­kri­mi­nie­rung. Die Nicht-Pri­vi­le­gier­ten und die Pre­kärs­ten zah­len bereits für die­se Pan­de­mie den höchs­ten Preis und wer­den ihn auch wei­ter­hin bezah­len - vor allem mit ihrem Leben.

Gleich­zei­tig haben meh­re­re Regie­run­gen, vor allem die­je­ni­gen Ita­li­ens und Frank­reichs, ver­sucht, ihr fahr­läs­si­ges Ver­hal­ten durch eine krie­ge­ri­sche Hal­tung zu kaschie­ren. Sie grei­fen zurück auf das gesam­te Arse­nal des Natio­na­lis­mus: Sie schie­ben die Armee, die Natio­nal­hym­ne und die For­de­rung nach „natio­na­ler Ein­heit“ in den Vor­der­grund, wäh­rend gleich­zei­tig die Klas­sen­dis­kri­mi­nie­rung noch nie so stark gewe­sen ist wie seit Beginn die­ser Pan­de­mie. Zudem haben meh­re­re Regie­run­gen den Aus­nah­me­zu­stand aus­ge­ru­fen (Ita­li­en, Frank­reich, Por­tu­gal, Spanien).

Es gibt die Ver­su­chung, die­se Situa­ti­on aus­zu­nut­zen, um die sozia­len und demo­kra­ti­schen Rech­te ein­zu­schrän­ken. So wird in Deutsch­land die Covid-19-Kri­se dazu benutzt, ver­schie­de­ne Errun­gen­schaf­ten der Arbei­ter­be­we­gung in Fra­ge zu stel­len oder zu besei­ti­gen. In Bay­ern bei­spiels­wei­se ist das Arbeits­zeit­ge­setz gelo­ckert und in ganz Deutsch­land sind die Pfle­ge­per­so­nal­un­ter­gren­zen auf­ge­ho­ben wor­den. In Frank­reich erlaubt die Regie­rung Unter­neh­men per Dekret, von den Vor­schrif­ten zur Arbeits­zeit und zur Gewäh­rung von Urlaub abzu­wei­chen. In Spa­ni­en und Por­tu­gal wur­de das Streik­recht im Gesund­heits­we­sen und in wesent­li­chen Pro­duk­ti­ons­be­rei­chen auf­ge­ho­ben und Streik­bruch zuge­las­sen. Das unga­ri­sche Par­la­ment erteil­te Orban Voll­mach­ten, durch die jeg­li­che demo­kra­ti­sche Kon­trol­le aus­ge­he­belt wird.

Die­se Pan­de­mie ist nicht nur für vie­le Wissenschaftler*innen alles ande­re als über­ra­schend. Das mas­si­ve Wachs­tum der Agrar­in­dus­trie sowie der Fleisch­bran­che und die zuneh­men­de Abhol­zung von Wäl­dern haben zusam­men mit immer grö­ße­ren Slums in den Mega­städ­ten und den glo­ba­len Pro­duk­ti­ons­ket­ten eine Zeit­bom­be geschaf­fen. Sie begüns­tigt die Ent­wick­lung und welt­wei­te Ver­brei­tung neu­er und unbe­kann­ter Virenstämme.

Ausschnitt aus Diego Riveras Fresko "Versammlung", Mexico-City 1924 (Bildnachweis: Privat)

Aus­schnitt aus Die­go Rive­ras Fres­ko “Ver­samm­lung”, Mexi­co-City 1924 (Bild­nach­weis: Privat)

Die Euro­päi­sche Uni­on hat ange­sichts die­ser Kri­se eine trau­ri­ge Vor­stel­lung gebo­ten. Die der­zei­ti­ge Situa­ti­on ist das Ergeb­nis einer lang­jäh­ri­gen „Spar“-Politik. Die EU hat im letz­ten Jahr­zehnt nicht weni­ger als drei­und­sech­zig Mal eine Kür­zung der öffent­li­chen Gesund­heits­aus­ga­ben in ver­schie­de­nen Län­dern gefor­dert. Statt eine Gesund­heits­ko­or­di­na­ti­on ein­zu­rich­ten und Res­sour­cen zur Bekämp­fung der Pan­de­mie zu bün­deln, haben die Regie­run­gen zunächst die natio­na­len Gren­zen zu „infi­zier­ten Län­dern“ geschlos­sen. Sie haben anfangs die von Ita­li­en erbe­te­ne Hil­fe ver­wei­gert und auf unge­ord­ne­te Wei­se wider­sprüch­li­che Maß­nah­men ergrif­fen. Seit Wochen erhält Ita­li­en mehr Hil­fe von Chi­na, Russ­land und sogar Kuba als von euro­päi­schen Ländern.

Der Man­gel an Mas­ken, Tests und Inten­siv­bet­ten mach­te in den meis­ten Län­dern emp­find­li­che Kon­takt­sper­ren unum­gäng­lich, aber auch heu­te noch gibt es kei­ne aus­rei­chen­de Zusam­men­ar­beit auf euro­päi­scher Ebe­ne. Auf den euro­päi­schen Gip­fel­tref­fen der letz­ten Wochen stand die Ret­tung der dro­hen­den Bör­sen- und Finanz­kri­se im Zen­trum. Des­halb wur­de die vor­über­ge­hen­de Aus­set­zung der Haus­halts­re­geln und die quan­ti­ta­ti­ve Locke­rung der Kre­dit­ge­wäh­rung durch die Euro­päi­sche Zen­tral­bank (EZB) beschlos­sen. Unter­des­sen lehn­te die EU die gefor­der­te Aus­ga­be von Coro­na-Bonds mit Haf­tung auf euro­päi­scher Ebe­ne ab, durch die bei­spiels­wei­se Ita­li­en zins­güns­ti­ge Dar­le­hen erhal­ten könn­te. Der ein­zi­ge Vor­schlag war zyni­scher­wei­se, den Euro­päi­schen Siche­rungs­me­cha­nis­mus (ESM) zu nut­zen. Er macht Hil­fe­leis­tun­gen von „Spar“-Maßnahmen abhän­gig, die ja zu der der­zei­ti­gen kata­stro­pha­len Situa­ti­on geführt haben. Zu kei­nem Zeit­punkt wur­de eine Zusam­men­ar­beit auf dem Gebiet der Gesund­heits­ver­sor­gung, der indus­tri­el­len Res­sour­cen und des medi­zi­ni­schen Per­so­nals ange­strebt. Jeder Staat betreibt sei­ne eige­ne Poli­tik von Schutzmaßnahmen.

Sofort­maß­nah­men

Die Orga­ni­sa­tio­nen und Aktivist*innen der Vier­ten Inter­na­tio­na­le in Euro­pa tre­ten gemein­sam für ein Pro­gramm von Sofort­maß­nah­men ein:

  • Die Bereit­stel­lung aus­rei­chen­der Mit­tel für mas­sen­haf­te Coro­na-Tests, die mas­si­ve Erhö­hung der Anzahl von Inten­siv­bet­ten und Beatmungs­ge­rä­ten, geeig­ne­te Schutz­mas­ken und flä­chen­de­cken­de Coro­na-Tests für die gesam­te Bevöl­ke­rung, um die Auf­he­bung der heu­ti­gen Ein­schrän­kun­gen zu ermög­li­chen. Unver­züg­li­cher Start einer ent­spre­chen­den demo­kra­tisch kon­trol­lier­ten Pro­duk­ti­on in Ver­bin­dung mit einer nicht­kom­mer­zi­el­len For­schung für Medi­ka­men­te und Impf­stof­fe gegen Covid-19.
  • Die Ein­stel­lung aller wirt­schaft­li­chen Akti­vi­tä­ten, die für das täg­li­che Leben und den Gesund­heits­schutz der Bevöl­ke­rung nicht lebens­not­wen­dig sind,
  • Die 100-pro­zen­ti­ge Über­nah­me der Ver­ant­wor­tung durch die Unter­neh­men und/oder die Staa­ten zur Lohn­fort­zah­lung von Arbeiter*innen, die momen­tan nicht arbei­ten kön­nen, ein­schließ­lich pre­kä­rer Arbeiter*­innen, Zeitarbeiter*innen, Haus­an­ge­stell­ter, Schein­selb­stän­di­ger und Saisonarbeiter*innen. Sie dür­fen nicht ver­pflich­tet wer­den, Urlaubs­ta­ge zu neh­men oder die nicht erbrach­ten Stun­den anschlie­ßend nach­zu­ar­bei­ten. Der Staat über­nimmt die Aus­zah­lung der Löh­ne von Arbeiter*innen, deren Unter­neh­men sich wäh­rend der Kri­se wei­gern, sie zu bezah­len. Die Regie­rung muss sich die­se Kos­ten wie­der zurück­ho­len, indem sie Unter­neh­men, die sich der Nicht­zah­lung schul­dig gemacht haben, mit Geld­bu­ßen bestraft. Für die Arbeiter*innen im infor­mel­len Sek­tor, für die unbe­zahl­ten Arbeits­lo­sen, für die Stu­die­ren­den, für alle, die es brau­chen, muss der Staat ein Min­dest­ein­kom­men garan­tie­ren, das aus­reicht, um ein anstän­di­ges Leben zu führen.
  • Das Ver­bot aller Ent­las­sun­gen und die Wie­der­ein­stel­lung von Arbeiter*innen, die seit Beginn der Pan­de­mie ent­las­sen wurden.
  • Die Ableh­nung sämt­li­cher auto­ri­tä­rer Not­stands-Maß­nah­men zur Aus­set­zung sozia­ler Rech­te ein­schließ­lich des Streikrechts;
  • Bereit­stel­lung von Schutz­mit­teln (Mas­ken, Des­in­fek­ti­ons­mit­teln, Bril­len, Hand­schu­he) für alle Beschäf­tig­ten, die arbei­ten müs­sen, und das Recht, Arbei­ten umge­hend zu ver­wei­gern, wenn die Gesund­heits­schutz­re­geln nicht ein­ge­hal­ten werden.
  • Der Stopp aller Zwangs­räu­mun­gen, das Aus­set­zen von Mie­ten, Kre­dit­rück­zah­lun­gen, Strom- und Was­ser­rech­nun­gen, statt­des­sen: die Bereit­stel­lung von ange­mes­se­nem Wohn­raum für alle, die in pre­kä­ren Ver­hält­nis­sen leben oder woh­nungs­los sind, die Beschlag­nah­me leer­ste­hen­der Wohnungen.
  • Die Bereit­stel­lung ange­mes­se­ner Hil­fe für Men­schen mit Behin­de­rung, älte­re Men­schen und all jene, die durch Kon­takt­ver­bo­te sozi­al iso­liert sind.
  • Ins­be­son­de­re in Län­dern, in denen „häus­li­che Qua­ran­tä­ne“ ange­ord­net wor­den ist, müs­sen Sofort­maß­nah­men zum Schutz von Frau­en und Kin­dern getrof­fen wer­den. Opfer von Gewalt müs­sen durch rasches Han­deln ent­we­der durch Tren­nung gewalt­tä­ti­ger Partner*innen oder durch Bereit­stel­lung alter­na­ti­ver Unter­künf­te geschützt werden.
  • Der Zugang zu Ver­hü­tungs­mit­teln und zu Abtrei­bung gehö­ren zur lebens­wich­ti­gen medi­zi­ni­schen Grundversorgung.
  • Sofor­ti­ge Aner­ken­nung aller bis­her nicht lega­li­sier­ter Migrant*innen und Geflüch­te­ten. Sofor­ti­ger Zugang zum Sozi­al­sys­tem und Ende aller Abschie­bun­gen. Sofor­ti­ge Schlie­ßung der aus den Näh­ten plat­zen­den Flücht­lings­la­ger, ins­be­son­de­re in Moria auf Les­bos, und Öff­nung der Gren­zen Euro­pas zur siche­ren Auf­nah­me der Geflüchteten.

Ange­sichts der Situa­ti­on müs­sen die Inter­es­sen der arbei­ten­den Klas­sen im Zen­trum der not­wen­di­gen Not­fall­maß­nah­men stehen:

  • Die öffent­li­che Reor­ga­ni­sa­ti­on des Gesund­heits­be­reichs unter Ein­be­zie­hung des gesam­ten Pri­vat­sek­tors, die sofor­ti­ge Ein­stel­lung aller Pfle­ge­kräf­te, die für die Erhö­hung der Zahl der Kran­ken­haus­bet­ten der medi­zi­ni­schen Diens­te not­wen­dig sind, die Wie­der­eröff­nung der Kran­ken­häu­ser, die in den letz­ten Jah­ren geschlos­sen wor­den sind, die Öff­nung aller not­wen­di­gen Struk­tu­ren im Gesund­heits­sek­tor und die Erhö­hung der Gehäl­ter der Pflegekräfte.
  • Ver­ge­sell­schaf­tung der Phar­ma­in­dus­trie und der Pro­duk­ti­on von allen not­wen­di­gen Medi­ka­men­ten – ohne Berück­sich­ti­gung etwa­iger Patentrechte.
  • Über­füh­rung der wich­tigs­ten Platt­for­men „sozia­ler Medi­en“ in öffent­li­ches Eigen­tum. Face­book, Whats­App, Ama­zon und Zoom pro­fi­tie­ren in gro­ßem Umfang von der gesell­schaft­li­chen Qua­ran­tä­ne und sam­meln Daten, die in Zukunft enor­me Gewin­ne gene­rie­ren wer­den. Die­se Kon­zer­ne müs­sen ohne Ent­schä­di­gung ent­eig­net wer­den, denn sie haben schon mehr als genug pro­fi­tiert. Ihre Platt­for­men müs­sen als gemein­nüt­zi­ge, trans­pa­ren­te, öffent­li­che Diens­te betrie­ben werden.Bestattungsunternehmen müs­sen in öffent­li­ches Eigen­tum über­führt wer­den. Pri­va­te Unter­neh­men soll­ten nicht vom Tod pro­fi­tie­ren und die Trau­er der Men­schen dafür nut­zen, ihre Gewin­ne zu maximieren.
  • Für eine nach­hal­ti­ge Land­wirt­schaft und glo­ba­le Ernährungsgerechtigkeit.
  • Sofor­ti­ge Umstel­lung geeig­ne­ter Indus­trien (Autos, Flug­zeu­ge, Waf­fen usw.) auf die Pro­duk­ti­on von Gütern, die der Gesell­schaft hel­fen, die Gesund­heits­kri­se in den Griff zu bekom­men: Beatmungs- und Kon­troll­ge­rä­te, Inten­siv­bet­ten und Schutz­aus­rüs­tun­gen. Die Arbeiter*innen kön­nen ihre eige­nen Arbeits­plät­ze begut­ach­ten und in Zusam­men­ar­beit mit den Gesund­heits­be­hör­den not­wen­di­ge Umstel­lun­gen durchführen.
  • Ent­eig­nung der Pri­vat­ban­ken ohne Ent­schä­di­gung der Groß­ak­tio­nä­re und Ver­ge­sell­schaf­tung des Finanz­sys­tems unter der Kon­trol­le der Bevöl­ke­rung, Aus­set­zung aller Bank­ge­büh­ren auf Pri­vat­kon­ten und Bereit­stel­lung von zins­lo­sen Kre­di­ten an die arbei­ten­den Klas­sen zur Befrie­di­gung ihrer unmit­tel­ba­ren Bedürfnisse.
  • Die sofor­ti­ge Aus­set­zung der Zah­lung der öffent­li­chen Schul­den ermög­licht die Mobi­li­sie­rung von aus­rei­chen­den Mit­teln, die die Län­der benö­ti­gen, um die Bedürf­nis­se der Bevöl­ke­rung wäh­rend der Pan­de­mie zu befrie­di­gen. Die Aus­set­zung der Schul­den­zah­lung muss unter Betei­li­gung der Bevöl­ke­rung statt­fin­den, um unrecht­mä­ßi­ge Schul­den erken­nen und ersatz­los strei­chen zu können.

Schlim­mer­wei­se sind die­se Pan­de­mie und die welt­wei­te Kri­se der Anfang eines Kri­sen­zy­klus, der durch die „Glo­ba­li­sie­rung“ und den Kli­ma­wan­del ver­ur­sacht wird. Der Kapi­ta­lis­mus hat eine Welt geschaf­fen, die die Sys­te­me mensch­li­cher Gesell­schaf­ten desta­bi­li­siert, aus­plün­dert und die Risi­ken von Kli­ma- oder Gesund­heits­ka­ta­stro­phen ver­schärft. Wir müs­sen der alten Welt der Pro­fi­te, Pan­de­mien und des Kli­ma­wan­dels ein Ende berei­ten und die Zer­stö­rung unse­res Pla­ne­ten stoppen.

Mehr denn je gilt: Unse­re Leben sind mehr wert als ihre Profite!

08. April 2020
Bel­gi­en: SAP /Antikapitalisten / Gau­che anti­ca­pi­ta­lis­te [Anti­ka­pi­ta­lis­ti­sche Linke]
Bri­tan­ni­en: Socia­list Resis­tance [Sozia­lis­ti­scher Widerstand]
Däne­mark: Socia­lis­tisk Arbej­der­po­li­tik (SAP) [Sozia­lis­ti­sche Arbeiter*innenpolitik]
Deutsch­land: Inter­na­tio­na­le Sozia­lis­ti­sche Orga­ni­sa­ti­on (ISO)
Frank­reich: Sec­tion fran­çai­se de la Qua­triè­me Inter­na­tio­na­le (SFQI) [Fran­zö­si­sche Sek­ti­on der Vier­ten Internationale]
Grie­chen­land: OKDE / Spar­ta­kos (Orga­no­si Komm­ounis­ton Dieth­nis­ton Ella­dos) [Orga­ni­sa­ti­on der Kom­mu­nis­ten Inter­na­tio­na­lis­ten Grie­chen­lands], Tet­artod­hi­eth­nis­ti­ki Pro­gram­ma­ti­ki Tasi (TPT) [Pro­gram­ma­ti­sche Ten­denz der Vier­ten Internationale]
Irland: Socia­list Demo­cra­cy [Sozia­lis­ti­sche Demokratie]
Ita­li­en: Com­mu­nia Net­work [Gemein­sa­mes Netz­werk], Sinis­tra Anti­ca­pi­ta­lis­ta [Anti­ka­pi­ta­lis­ti­sche Linke]
Nie­der­lan­de: Socia­lis­ti­sche Alter­na­tie­ve Poli­tiek (SAP) ‒ Gren­zeloos [Sozia­lis­ti­sche Alter­na­ti­ve Poli­tik (SAP) – Grenzenlos]
Öster­reich: Sozia­lis­ti­sche Alter­na­ti­ve (SOAL)
Polen: Zbi­gniew Mar­cin Kowalewski
Por­tu­gal: Kol­lek­tiv von Mit­glie­dern der Vier­ten Inter­na­tio­na­le (PSFI), Tou­pei­ra Ver­mel­ha [Roter Maulwurf]
Russ­land: Ros­s­ijs­ko­je Sozia­lis­tit­sche­sko­je Dwis­he­ni­je (RSD) [Rus­si­sche Sozia­lis­ti­sche Bewegung]
Schwe­den: Socia­lis­tisk Poli­tik [Sozia­lis­ti­sche Politik]
Schweiz: Bewe­gung für den Sozialismus/Mouvement pour le Socia­lis­me (BFS/MPS), soli­da­ri­téS [Soli­da­ri­tä­ten]
Spa­ni­scher Staat: Anti­ca­pi­ta­lis­tas [Antikapiatlist*innen]
Tür­kei: Sosyalist Demo­kra­si için Yeni­yol [Neu­er Weg für sozia­lis­ti­sche Demokratie]

Theo­rie­bei­la­ge Avan­ti² Rhein-Neckar Mai 2020
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