Der Krieg und sein Klassencharakter
Manuel Kellner
Lenins „Aprilthesen“ beinhalteten einen Aufruf zu einer sozialistischen Revolution in Russland. Vier Tage nach ihrem Bekanntwerden nahm die Prawda („Wahrheit“), die Partei-Zeitung der Bolschewiki, dazu kritisch Stellung. Ihre Redaktion stand damals unter der Leitung von Kamenew und Stalin.
In der Prawda war zu lesen: „Was das allgemeine Schema des Genossen Lenin betrifft, so erscheint es uns unannehmbar, insofern es von der Einschätzung der bürgerlich-demokratischen Revolution als einer abgeschlossenen ausgeht und mit der sofortigen Umwandlung dieser Revolution in eine sozialistische Revolution rechnet.“ Das bedeutete auch eine zweideutige Haltung zur Provisorischen Regierung und zum Krieg. Verteidigte die russische Armee jetzt nicht die Revolution gegen das deutsche Kaiserreich?
Lenin erreichte jedoch in der bolschewistischen Partei bald eine Mehrheit für seine Position. Er sah einen großen Unterschied zwischen der Haltung der Provisorischen Regierung unter dem Fürsten Lwow als einer Regierung des Kapitals sowie der Grundbesitzer und der Haltung der ArbeiterInnen, Soldaten und armen BäuerInnen. Wenn die Regierenden von der Verteidigung des Vaterlands und der Revolution sprachen, dann wollten sie das Volk betrügen und den Krieg als imperialistischen Raubkrieg weiterführen.
So sprach der Außenminister Miljukow offenbar in Übereinstimmung mit dem Kriegs- und Marineminister Gutschkow von Offensiven zur Eroberung von Teilen Kleinasiens und Konstantinopels.
Wenn einfache Leute von Verteidigung sprachen, dann meinten sie ehrlich die Verteidigung der Revolution. Den imperialistischen Charakter des Krieges auch von Seiten Russlands erkannten sie nicht. Man musste sie geduldig aufklären.
Gutschkow und Miljukow wurden am 5. Mai (18. Mai nach gregorianischem Kalender) 1917 in der neuformierten zweiten Koalition unter Lwow durch Kerenski und Tereschtschenko ersetzt. Das war die erste Koalitionsregierung, an der auch die Sozialrevolutionäre und Menschewiki (gemäßigte Sozialisten) teilnahmen.
Diese Regierung sprach nun von einer Vorbereitung der Armee für „defensive und offensive Aktionen zur Abwendung einer etwaigen Niederlage Russlands und seiner Verbündeten“ (Frankreich, England, und inzwischen auch die USA). Sie sprach auch von einer „aktiven Außenpolitik zugunsten des Friedens.“
Gegen den kapitalistischen Eroberungskrieg
In Wirklichkeit wollte die Regierung sich auf den Krieg stützen, um die Fortschritte der Revolution zu hemmen und alle wichtigen Fragen – wie die Einberufung der Konstituierenden Versammlung und die Agrarreform – zu verschieben. Die Rätebewegung wurde immer stärker und die Bolschewiki bekamen in ihr mehr Einfluss.
Lenin schrieb am 7. Mai (24. Mai) einen Offenen Brief an die Delegierten des Allrussischen Bauernkongresses. Zur Frage des Krieges führte er aus, dieser Krieg sei ein Eroberungskrieg der Kapitalisten aller Länder.
Die Bolschewiki lehnten es ab, den Krieg der eigenen Kapitalisten zu rechtfertigen. Die an der Regierung beteiligten Menschewiki wollten Kapitalisten und Gutsbesitzer davon überzeugen, einen „gerechten Frieden“ zu schließen. In Wirklichkeit würden sie ihnen aber helfen, den Krieg und seine Leiden in die Länge zu ziehen.
Lenin erklärte, dass dieser verbrecherische Krieg sofort beendet werden müsse. Nicht durch einen Separatfrieden mit Deutschland, sondern durch einen allgemeinen Frieden „gegen die Kapitalisten“. Dafür müsse die Staatsmacht in die Hände der Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräte übergehen.
Die Bolschewiki verbanden die Haltung zum Krieg mit dem Klassencharakter von Regierung und Staat. Eine Rätemacht, mit der die ArbeiterInnen und armen Bauern herrschen würden, hätte ihrerseits alles Recht der Welt, sich gegen imperialistische Aggression auch militärisch zu verteidigen.
aus der Rhein-Neckar Beilage zur Avanti Mai 2017