Seu­chen­be­kämp­fung oder Massenwahn

Hel­mut Dahmer

Coro­na“ (ali­as COVID-19) begann sei­nen Zug um die Welt in der zen­tral­chi­ne­si­schen Mil­lio­nen­stadt Wuhan. Ver­mut­lich sprang auf dem dor­ti­gen Markt ein mutier­tes Virus von Tie­ren (Fle­der­mäu­sen?) auf Men­schen über und ver­brei­te­te sich dann rasch durch Anste­ckung (Tröpf­chen-Infek­ti­on).

Anders als frü­he­re Epi­de­mien, die den euro­päi­schen und den ame­ri­ka­ni­schen Kon­ti­nent nicht erreich­ten oder nur streif­ten, mach­te sich der Erre­ger der neu­en Seu­che die von Mil­lio­nen fre­quen­tier­ten Rei­se- und Han­dels­stra­ßen der Gegen­wart zunut­ze, sprang bin­nen Tagen und Wochen von Land zu Land und von Kon­ti­nent zu Kon­ti­nent. COVID-19 wur­de zur Pandemie.

Kundgebung am 1. Mai 2020 auf dem Marktplatz in Mannheim (Foto: helmut-roos@web.de)

Kund­ge­bung am 1. Mai 2020 auf dem Markt­platz in Mann­heim (Foto: helmut-roos@web.de)

Ohne Immu­ni­tät, unvor­be­rei­tet, ohne Vor­beu­ge- oder Heil­mit­tel befin­den wir uns in einer Lage, die der­je­ni­gen gleicht, in der sich die Bevöl­ke­run­gen der alt­ame­ri­ka­ni­schen Kul­tu­ren Mit­tel- und Süd­ame­ri­kas befan­den. Euro­päi­sche Erobe­rer, die selbst „immu­nen“ Konqui­stadoren, infi­zier­ten sie mit ihnen unbe­kann­ten Krank­hei­ten, an denen sie in Mas­sen zugrun­de gingen.

Auch die euro­päi­sche Bevöl­ke­rung wur­de Jahr­hun­der­te lang stets wie­der von Seu­chen heim­ge­sucht, denen sie die längs­te Zeit hilf­los gegen­über­stand. Pest und Cho­le­ra haben sich dem Kol­lek­tiv­ge­dächt­nis am tiefs­ten eingeprägt.

Man­che die­ser Epi­de­mien ent­völ­ker­ten gan­ze Land­stri­che, kehr­ten gele­gent­lich wie­der oder ver­schwan­den ganz. Außer Hygie­ne- und Qua­ran­tä­ne-Maß­nah­men wuss­te man ihnen jahr­hun­der­te­lang nichts entgegenzusetzen.

II
Die Aus­ein­an­der­set­zung zwi­schen der von ihm vor­ge­fun­de­nen „Umwelt“ und dem eigen­tüm­li­chen Natur­we­sen Mensch (samt sei­nen Vor­läu­fern) währt schon etwa eine Mil­li­on Jah­re. Als „Inva­li­de sei­ner höhe­ren Kräf­te“ (näm­lich der Spra­che und der Tech­nik) und als „nicht fest­ge­stell­tes“, dar­um außer­or­dent­lich anpas­sungs­fä­hi­ges Tier – wie Her­der und Nietz­sche ihn cha­rak­te­ri­sier­ten –, hat die­ser trans­kon­ti­nen­ta­le Räu­ber und Wan­de­rer, vor allem seit der „neo­li­thi­schen Revo­lu­ti­on“, dem Über­gang zu Acker­bau und Vieh­zucht, sei­nen Bedürf­nis­sen ent­spre­chend mit­tels Rodung und Was­ser­bau wei­te Ter­ri­to­ri­en umge­stal­tet und unter der Fau­na aufgeräumt.

Selbst ein Alles­fres­ser, hat er sich – im Schutz­raum sei­nes kul­tu­rel­len Lebens­raums – dem Schick­sal des Gefres­sen-Wer­dens ent­zo­gen. Man­che Tie­re (wie Mam­muts) hat er aus­ge­rot­tet, ihm gefähr­li­che (wie Bären, Tiger und Wöl­fe…) dezi­miert und die über­le­ben­den in Zoos und Reser­va­te gesperrt.

Doch den Kampf gegen die (wie die ato­ma­re Strah­lung) ohne spe­zi­el­le Gerä­te für ihn nicht wahr­nehm­ba­ren Men­schen­fres­ser, gegen die mikro­sko­pisch klei­nen, stets mutie­ren­den para­si­tä­ren „Virio­nen“, die zu ihrer Repro­duk­ti­on auf Wirts­zel­len von Pflan­zen oder Tie­ren ange­wie­sen sind, hat er noch längst nicht gewon­nen.1 Die Ent­de­ckung von und der Kampf gegen Viren ist unge­fähr 150 Jah­re alt (der gegen „Bak­te­ri­en“ währt schon drei­ein­halb Jahrhunderte).

III
Bis in die (euro­päi­sche) Neu­zeit gab es auf die quä­len­de Fra­ge nach Her­kunft und „Sinn“ der gro­ßen Seu­chen nur eine, näm­lich die magi­sche Ant­wort: Die Men­schen haben den Kult der irdi­schen und himm­li­schen Göt­ter, denen sie Leben und Nah­rung ver­dan­ken, ver­nach­läs­sigt, ihre Gebo­te miss­ach­tet – sie sind also schul­dig gewor­den.2 Die­se Schuld muss abge­gol­ten wer­den, und es genügt nicht, dass Göt­ter und Dämo­nen sich selbst mit Hil­fe der Krank­heit beängs­ti­gend gro­ße Men­schen­op­fer holen.

Kundgebung am 1. Mai 2020 auf dem Marktplatz in Mannheim (Foto: helmut-roos@web.de)

Kund­ge­bung am 1. Mai 2020 auf dem Markt­platz in Mann­heim (Foto: helmut-roos@web.de)

Es bedarf immer neu­er Süh­ne­op­fer und Rei­ni­gungs­ri­tua­le von Sei­ten der schul­dig Gewor­de­nen, die unter dem Druck ihrer Schuld ande­re Schul­di­ge suchen und fin­den. Kan­di­da­ten dafür waren nicht nur Pest­kran­ke oder Aus­sät­zi­ge, ver­meint­li­che Brun­nen­ver­gif­ter und Brand­stif­ter, Hos­ti­en- schän­der, Hexer und Hexen, son­dern auch Un- und Anders­gläu­bi­ge, „Sün­der“ aller Art, „Gezeich­ne­te“, Frem­de und Kriegs­ge­fan­ge­ne … Und so war jede Epi­de­mie, jede Kata­stro­phe, jede Dür­re, Über­schwem­mung und Miss­ern­te beglei­tet und gefolgt von Opferorgien.

Psy­chi­sche Epi­de­mien“, heißt es in einer Geschich­te der Medi­zin, „tra­ten beson­ders nach dem Schwar­zen Tod auf und fan­den ihren Aus­druck in Akten des Mas­sen­wahns, wie der Ver­bren­nung von Tau­sen­den von Juden, den Pro­zes­sio­nen der Fla­gel­lan­ten [Geiß­ler] und den Kin­der­kreuz­zü­gen (1212).“3

IV
Von der Früh­ge­schich­te bis in die frü­he Neu­zeit waren die Men­schen den Seu­chen­zü­gen hilf­los aus­ge­lie­fert. Sie wuss­ten nicht, wie ihnen geschah.

Erst als auf der Grund­la­ge der ver­all­ge­mei­ner­ten Waren­pro­duk­ti­on Nut­zen­kal­kü­le eine enor­me Stei­ge­rung der Arbeits­pro­duk­ti­vi­tät, also der Natur- und Men­schen­be­herr- schung ermög­lich­ten,4 wur­den in der zwei­ten Hälf­te des 19. Jahr­hun­dert auch Bio­lo­gie und Medi­zin revo­lu­tio­niert.5 Seit­dem sind Epi­de­mien im Prin­zip kon­trol­lier­bar gewor­den, man kann ihnen vor­beu­gen, sie ein­däm­men oder sie gar abschaf­fen.6

Seit 150 Jah­ren sind Infek­ti­ons­krank­hei­ten kein Schick­sal mehr, so wenig, wie es die Krie­ge sind oder die Kata­stro­phen von Tscher­no­byl und Fuku­shi­ma. An die Stel­le vie­ler Natur­ka­ta­stro­phen von der­mal­einst sind man-made-dis­as­ters [mensch­ge­mach­te Kata­stro­phen] getreten.

Wenn Epi­de­mien anti­quiert noch immer beschrie­ben und bespro­chen wer­den, als han­de­le es sich um Phä­no­me­ne wie Meteo­ri­ten-Ein­schlä­ge, Tsu­na­mis oder Vul­kan­aus­brü­che, dann wird der unbe­herrsch­ba­ren Natur zuge­schrie­ben, was nur mehr Pro­dukt der unbe­herrsch­ten Welt­ge­sell­schaft ist. Sie wird von Impe­ra­ti­ven der Kapi­tal­ak­ku­mu­la­ti­on getrie­ben und tau­melt plan­los von einer Kata­stro­phe in die nächs­te. Nicht weni­ge der ver­meint­li­chen „Natur“-Katastrophen der Gegen­wart sind in Wahr­heit Sozi­al-Kata­stro­phen, und deren „natu­ra­le“ Camou­fla­ge ver­hin­dert die Suche nach den Fak­to­ren hin­ter den (epi­de­mio­lo­gi­schen) Fakten.

Rück­bli­ckend auf die „Ära der Bak­te­rio­lo­gie“ schrieb Erwin Acker­knecht: „Man mach­te die Erfah­rung, dass die Kennt­nis der para­si­tä­ren Krank­heits­ur­sa­chen und ihrer wirk­sa­men Behand­lungs­wei­se nicht zur Aus­rot­tung der Krank­heit füh­ren kann, wenn bestimm­te sozia­le und wirt­schaft­li­che Fak­to­ren für die vol­le Anwen­dung die­ser Kennt­nis ungüns­tig sind. Dies gilt beson­ders für die Cho­le­ra, für die Mala­ria, für die Tuber­ku­lo­se und für die Syphi­lis. Das ärzt­li­che Wis­sen wür­de beim [Ende des 19. Jahr­hun­derts] schon hohen Stand der Mikro­bio­lo­gie wahr­schein­lich aus­rei­chend gewe­sen sein, um die­se Krank­hei­ten all­mäh­lich aus­zu­rot­ten. Doch die schlech­ten hygie­ni­schen und sozia­len Bedin­gun­gen sicher­ten […] ihr Fort­be­stehen und las­sen bis heu­te ihre Aus­brei­tung in der Drit­ten Welt zu.“7

V
Die längs­te Zeit der Mensch­heits­ge­schich­te boten Höh­len, Häu­ser, Städ­te und Mau­ern rela­ti­ven Schutz gegen Natur­ge­wal­ten und sicht­ba­re Fein­de, nicht aber gegen unsicht­ba­re und dar­um unbe­kann­te. Das änder­te sich erst in der Moder­ne, die es ermög­lich­te, auch zuvor Unsicht­ba­res sicht­bar und mess­bar zu machen und neu­ar­ti­ge Schutz­vor­keh­run­gen und Heil­mit­tel zu kre­ieren. Auf­grund der For­schun­gen von Pas­teur, Koch und ihren Nach­fol­gern ist es mög­lich gewor­den, den mensch­li­chen Lebens­raum mit neu­ar­ti­gen, fei­ne­ren Fil­tern bes­ser gegen Bak­te­ri­en und Viren zu schüt­zen. Doch im Innern die­ses Habi­tats herrscht noch immer die Ungleich­heit und toben Ver­tei­lungs­kämp­fe zwi­schen den Klas­sen. Von deren Aus­gang hängt es nun ab, ob wei­te­re Ver­fah­ren der Seu­chen­be­kämp­fung ent­wi­ckelt und genutzt wer­den kön­nen und ob sie weni­gen, vie­len oder allen zugu­te­kom­men.8 Nicht mehr die Wöl­fe müs­sen wir fürch­ten, son­dern Men­schen, die – unkon­trol­liert – über finan­zi­el­le und mili­tä­ri­sche Macht­mit­tel ver­fü­gen, nicht neue Viren, son­dern die tra­di­tio­nell unglei­che Ver­tei­lung des gesell­schaft­li­chen Reich­tums, die es bis­her unmög­lich macht, Hun­ger, Krieg und Seu­chen abzu­schaf­fen. Die Ursa­che heißt Klassengesellschaft!

VI
In vie­len Staa­ten der Erde gilt die jeweils ver­folg­te Poli­tik als „alter­na­tiv­los“. Weil es schon lan­ge kei­ne gro­ßen Par­tei­en mehr gibt, die nicht nur bestimm­te Män­gel der bestehen­den Gesell­schaft refor­mie­ren, son­dern ihre Struk­tur grund­le­gend ändern wol­len, und weil Sozi­al­wis­sen­schaft­ler, denen es um sol­che Alter­na­ti­ven geht, mar­gi­na­li­siert wer­den, fun­gie­ren der­zeit ein­zig Viro­lo­gen als (wis­sen­schaft­li­che) Bera­ter jener Regie­run­gen, die das Sys­tem der Ungleich­heit und der Unmün­dig­keit schlecht und recht verwalten.

Kundgebung am 1. Mai 2020 auf dem Marktplatz in Mannheim (Foto: helmut-roos@web.de)

Kund­ge­bung am 1. Mai 2020 auf dem Markt­platz in Mann­heim (Foto: helmut-roos@web.de)

Die aus ein paar Par­tei­po­li­ti­kern spon­tan gebil­de­ten „Coro­na-Stä­be“ erwie­sen sich frei­lich in die­sem, von der Seu­che bestimm­ten Früh­jahr 2020 als außer­or­dent­lich fle­xi­bel. Über Nacht schlu­gen sie gro­ße Bre­schen in den Käfig „alter­na­tiv­lo­ser“ Reform- und Gedan­ken­lo­sig­keit und ver­leg­ten sich, nach Jah­ren und Jahr­zehn­ten der „Austeritäts“-Politik, um der Wirt­schaft und der Volks­ge­sund­heit wil­len aufs Schul­den­ma­chen und auf staat­li­che Ein­grif­fe in die „Märk­te“, deren Kom­man­do ihnen doch bis­her stets Gesetz war.

Inwie­weit die jüngs­te Muta­ti­on des Coro­na-Virus durch Rodun­gen, Mas­sen­tier­hal­tung und Kli­ma­wan­del begüns­tigt wur­de, steht dahin. Dass das Virus sich über die heu­ti­gen Rei­se- und Han­dels­rou­ten ver­brei­tet, ist unverkennbar.

Dass Pro­phy­la­xe, Ein­däm­mung, Erfor­schung und Bekämp­fung von den ver­füg­ba­ren Res­sour­cen (Viren-Spe­zia­lis­ten, Seu­chen­ärz­ten, For­schungs­la­bors, Pfle­ge­per­so­nal, Kran­ken­haus­plät­zen, Inten­siv­sta­tio­nen, Des­in­fek­ti­ons­mit­teln, Mas­ken, Beatmungs­ge­rä­ten usw.), über­haupt vom jewei­li­gen Zustand des Gesund­heits­sys­tems abhän­gen, liegt auf der Hand. Und das heißt: Die Bevöl­ke­run­gen der Gläu­bi­ger­staa­ten haben gegen­über denen der Schuld­ner­staa­ten auch und gera­de in Pan­de­mie­zei­ten weit­aus bes­se­re Über­le­bens­chan­cen, so wie im Innern der weni­gen Wohl­stands­in­seln die pri­vi­le­gier­ten Schich­ten auch im Zei­chen von Coro­na bes­ser, siche­rer und län­ger leben.

VII
Mana­ger, Han­dels­agen­ten, Tech­ni­ker, Ent­wick­lungs­hel­fer, Tou­ris­ten und Mis­sio­na­re tra­gen das Virus in alle Welt. Doch weder in Alba­ni­en, noch in Kam­bo­dscha, weder auf Hai­ti, noch auf der Oster­in­sel wird ein Impf­stoff gegen Coro­na gefun­den wer­den, und falls einer gefun­den wird, wer­den die Pan­de­mie-Opfer in der Drit­ten und Vier­ten Welt zu aller­letzt davon profitieren.

Kundgebung am 1. Mai 2020 auf dem Marktplatz in Mannheim (Foto: helmut-roos@web.de)

Kund­ge­bung am 1. Mai 2020 auf dem Markt­platz in Mann­heim (Foto: helmut-roos@web.de)

Die soge­nann­ten hot­spots oder Viren­schleu­dern, von denen die Seu­che aus­strahlt oder in denen sie immer wie­der auf­flammt, sind, abge­se­hen von Lust­bar­kei­ten (Kar­ne­val, Sport­ver­an­stal­tun­gen, Après-Ski …), Got­tes­diens­ten und poli­ti­schen Mee­tings vor allem Kaser­nen, Schlacht- und Kreuz­fahrt­schif­fe, Flücht­lings- und Gefan­ge­nen­la­ger, Slums und die erbärm­li­chen Mas­sen­quar­tie­re für Hun­dert­tau­sen­de von bil­li­gen Wan­der­ar­bei­tern, wie sie in der Land­wirt­schaft, auf Groß­bau­stel­len oder in Fleisch­fa­bri­ken ein­ge­setzt werden.

Auf die Exis­tenz die­ser Bil­lig-Lohn-Bri­ga­den wer­den Poli­tik und Öffent­lich­keit jetzt, wo sie zu Seu­chen­op­fern und damit zu Gefähr­dern gewor­den sind, zum ers­ten Mal ernst­haft auf­merk­sam. Kaum eine Gewerk­schaft, kaum ein Phil­an­throp hat sich je für sie inter­es­siert. In den „tota­len Insti­tu­tio­nen“ – in Gefäng­nis­sen, Psych­ia­trien, Alten- und Pfle­ge­hei­men – hält der Tod rei­che Ern­te. Und gilt das schon für die reichs­ten Län­der, wie wird es erst in den Welt-Armuts­zo­nen sein?

VIII
Coro­na wirft ein grel­les Licht auf die fei­nen und weni­ger fei­nen Unter­schie­de, die, um des immer­fort beschwo­re­nen, ima­gi­nä­ren Zusam­men­halts „aller“ Men­schen wil­len, natio­nal und inter­na­tio­nal geleug­net, beschö­nigt, rela­ti­viert und igno­riert wer­den.9 Zumin­dest für die, die über­haupt sehen wol­len, wer­den im Zei­chen von Coro­na die Klas­sen­tei­lung und die Spros­sen der Ein­kom­mens­lei­ter, wird die gesam­te Hier­ar­chie der sozia­len Schich­tung sicht­bar.10

Kundgebung am 1. Mai 2020 auf dem Marktplatz in Mannheim (Foto: helmut-roos@web.de)

Kund­ge­bung am 1. Mai 2020 auf dem Markt­platz in Mann­heim (Foto: helmut-roos@web.de)

Wie in Putsch-, Kriegs- oder Besat­zungs­zei­ten wer­den Aus­gangs­sper­ren (qua­si Haus­ar­res­te) ver­hängt. Mit denen ergeht es uns aber ganz dem berühm­ten State­ment von Ana­to­le France ent­spre­chend, wonach das Gesetz es Arm und Reich glei­cher­ma­ßen ver­bie­tet, unter den Brü­cken (nicht nur von Paris) zu schla­fen.11

Stay home galt für nor­ma­le Mie­ter, wobei es Bal­kon- und Gar­ten­nut­zer schon bes­ser getrof­fen hat­ten, erst recht die Haus­be­sit­zer. Nicht betrof­fen war die Klas­se der Auto­be­sit­zer, die sich jeder­zeit frei bewe­gen konn­te, und frei­er noch waren die mobi­li­sier­ten Dat­scha-, Zweit­woh­nungs- und Resi­denz-Eigen­tü­mer, die weder auf öffent­li­che Ver­kehrs­mit­tel, noch auf Hotels ange­wie­sen sind … „Freie Fahrt für freie Bürger!“

IX
Maß­nah­men-Kon­for­mi­tät erzeugt auf die Dau­er Unwil­len. Der aber rich­tet sich kaum gegen die Pri­vi­le­gier­ten, deren Leben sich unter Coro­na-Bedin­gun­gen nicht ändert, nicht gegen die­je­ni­gen, die weder von Kurz­ar­beit und Ver­dienstaus- fall, noch von Arbeits­lo­sig­keit betrof­fen sind, und eben­so wenig gegen die offi­zi­el­len Maß­nah­men-Ver­ord­ner und Schön­red­ner, die nur im Fern­se­hen auftreten.

Aggres­si­on trifft zunächst die weni­gen, die die neu­en Regeln all­zu strikt, weni­ger strikt oder gar nicht befol­gen. Abstands­wah­rer atta­ckie­ren Mit­bür­ger, die es mit dem Abstand nicht so genau neh­men, und über­all fin­den sich Ord­ner, die über Rei­hen­fol­ge und Abstän­de von Schlan­gen­ste­hern wachen. Schwit­zen­de Mas­ken­trä­ger beschimp­fen Unmas­kier­te. Sie empö­ren sich über die klei­nen Ungleich­hei­ten, die ihnen die gro­ßen, lebens­ent­schei­den­den ver­de­cken. Statt dass sie etwa Risi­ko­zu­schlä­ge und Lohn­er­hö­hun­gen für das medi­zi­ni­sche Per­so­nal ver­lang­ten, las­sen im Gegen­zug gan­ze Stra­ßen­zü­ge die ima­gi­nä­re Ein­heit der Coro­na-Bedroh­ten hoch­le­ben, mit Musik und Tanz auf Bal­ko­nen, mit Natio­nal­hym­nen und Bei­fall­klat­schen, und wehe dem, der sich von sol­chen Ritua­len dispensiert.

X
Nach Wochen aber macht sich nun der laten­te Frust Luft, erst in den „sozia­len“ Medi­en, dann auf Stra­ßen und Plätzen.

Kundgebung am 1. Mai 2020 auf dem Marktplatz in Mannheim (Foto: helmut-roos@web.de)

Kund­ge­bung am 1. Mai 2020 auf dem Markt­platz in Mann­heim (Foto: helmut-roos@web.de)

Die Pro­tes­tie­ren­den spre­chen nur für sehr weni­ge. Eine kla­re Mehr­heit der Bevöl­ke­rung steht hin­ter den Restrik­tio­nen. […] Doch gera­de jetzt sind alte und neue Dämo­nen auf den Stra­ßen unter­wegs. Vor weni­gen Wochen noch haben die Deut­schen die Nase gerümpft, als sie waf­fen­schwin­gen­de Ame­ri­ka­ner sahen, die gegen den Lock-Down pro­tes­tier­ten. Doch ihre Scha­den­freu­de währ­te nur kurz. Am 8. Mai ström­ten Tau­sen­de von Pro­test­lern auf die Stra­ßen von Groß­städ­ten wie Ber­lin, Mün­chen und Stutt­gart, die ihre Rech­te in Gefahr sehen und Ver­schwö­rungs­theo­rien favo­ri­sie­ren – eine wil­de Mischung von Ex­tremisten, Ver­schwö­rungs­theo­re­ti­kern und gewöhn­li­chen Bür­gern, die von der weit rechts ste­hen­den Alter­na­ti­ve für Deutsch­land nach Kräf­ten unter­stützt wur­de.“12

Im Bann der Alter­na­tiv­lo­sig­keit, die in Deutsch­land so lan­ge Staats­rai­son war, weiß kaum jemand, was zu tun und zu for­dern wäre. Nur weni­ge kom­men bis­her auf die nahe­lie­gen­de Idee, als Ant­wort auf die Coro­na-Kri­se nicht nur die sofor­ti­ge Ent-Pri­va­ti­sie­rung des Gesund­heits­sys­tems zu for­dern, son­dern die Ein­rich­tung eines neu­ar­ti­gen, non-pro­fi­ta­blen Gesund­heits­diens­tes, der allen kos­ten­los zur Ver­fü­gung steht.

Nur weni­ge Gewerk­schaf­ter trau­en sich, ange­sichts des Kurz­ar­bei­ter­heers, das dem­nächst zum Arbeits­lo­sen­heer wird, jetzt eine Umver­tei­lung der Arbeit auf die Tages­ord­nung zu set­zen, also die Vier-Tage-Woche (mit 28 Wochen­stun­den) für alle Beschäf­tig­ten und eine Min­dest­si­che­rung für alle, für die es kei­ne Arbeit (mehr) gibt.

Statt­des­sen demons­trie­ren Tau­sen­de, denen es zuvor nie ein­ge­fal­len wäre, über­haupt ein­mal für oder gegen etwas auf die Stra­ße zu gehen, für die Auf­he­bung der Restrik­tio­nen (näm­lich der Aus­gangs­be­schrän­kun­gen, der Mas­ken- und Abstands­pflicht), die uns bis­her Infek­ti­ons- und Todes­ra­ten wie in den west­li­chen Nach­bar­län­dern (von Russ­land, den USA oder Bra­si­li­en ganz zu schwei­gen) erspart haben.

Nicht die Ver­selb­stän­di­gung der Exe­ku­ti­ve gegen­über dem Par­la­ment macht ihnen Sor­ge, nicht die Ten­denz zum „star­ken Staat“. Vor­schnell geben sie die par­la­men­ta­ri­sche Demo­kra­tie ver­lo­ren, schwin­gen das Grund­ge­setz als Talis­man und wäh­nen, die „Uni­for­mie­rung“ der Bevöl­ke­rung durch den „Mer­kel-Maul­korb“ bewei­se, dass wir uns halb schon im tota­li­tä­ren Über­wa­chungs-Staat befänden.

In der ers­ten Rei­he fin­den sich Leu­te aus allen sozia­len Schich­ten, die, angst­ge­trie­ben, die Pan­de­mie über­haupt leug­nen, sie für ein blo­ßes Gerücht hal­ten, erfun­den, um Men­schen­mas­sen zu mani­pu­lie­ren.13 Nazis, die kei­ne sein wol­len, ver­su­chen, auf die­ser Pro­test-Wel­le zu sur­fen, da die „Flücht­lings­wel­le“, die sie nach 2015 in die Par­la­men­te von Bund und Län­dern spül­te, vor­läu­fig ver­ebbt ist.

In Deutsch­land wühlt der Stru­del der Empö­rung gleich auch die gan­ze unbe­wäl­tig­te Ver­gan­gen­heit wie­der auf. An Sta­tis­ten für alte Stü­cke fehlt es nicht, und in die­sen Geis­ter­spie­len wäh­nen die einen sich in der Revo­lu­ti­on von 1848, ande­re ver­set­zen sich lie­ber noch ein­mal in die von 1989 („Wir sind das Volk!“). Drit­te tra­gen stolz ein T-Shirt mit dem Kon­ter­fei Anne Franks zur Schau, wäh­rend neben ihnen jun­ge Frau­en und älte­re Män­ner, vor Tor­heit strah­lend, mit einem „Juden­stern“ an der Brust paradieren.

Vie­le rufen im Chor auch gern „Wider­stand!“, in einem Land, in dem es kei­ne Résis­tance gab und in dem die weni­gen über­le­ben­den Wider­ständ­ler noch Jah­re nach dem Krieg als „Ver­rä­ter“ gal­ten. Auch die alte, anti­se­mi­tisch getön­te „anti­ka­pi­ta­lis­ti­sche Sehn­sucht des deut­schen Vol­kes“14 regt sich wieder.

Die Sehn­süch­ti­gen küren Bill Gates, den Grün­der von Micro­soft, zum Sün­den­bock, Pro­gram­mie­rer von Beruf und Mäzen, einer von (welt­weit) mehr als zwei­tau­send Mil­li­ar­dä­ren. Vie­len Pro­test­lern gilt er dar­um als das per­so­ni­fi­zier­te Übel, als eine Art Mr. Welt­ka­pi­ta­list wie Geor­ge Sor­os. Was aber wer­fen sie ihm vor? Nicht etwa, dass das Wirt­schafts­sys­tem, dem er dient und von dem er pro­fi­tiert, Mehr­ar­beit aus­presst und den Arbei­ten­den stets mit „Frei­set­zung“ droht, oder dass Leu­te wie er sich Regie­run­gen und Par­la­men­te kau­fen kön­nen. Nein: dass er, ange­sichts der neu­en Pan­de­mie, eine Vari­an­te der guten alten Pocken­imp­fung favo­ri­siert …15

Trös­ten wir uns heu­te mit der Dia­gno­se, die Goya am Ende des 18. Jahr­hun­derts auf sei­nem 43. „Capricho“ [Ein­fall] notier­te: „El sue­ño de la razón pro­du­ce mons­tru­os“ [Der Schlaf der Ver­nunft gebiert Ungeheuer] …

(Wien, 25. Mai 2020)


Fuß­no­ten
1 Virio­nen sind Vor­stu­fen oder Frag­men­te leben­di­ger Zel­len, und sie sind, wie alle Lebe­we­sen, auf Selbst­er­hal­tung und Repli­ka­ti­on pro­gram­miert. Pocken, Her­pes, Hepa­ti­tis, Gelb­fie­ber, Ence­pha­li­tis, Polio, Coro­na (Influ­en­za) etc. sind vira­le Erkrankungen.
2 In sei­nem Augen­zeu­gen-Bericht über die Pest in Flo­renz im Jahr 1348 schrieb Boc­c­ac­cio: Sie „hat­te, durch den Ein­fluss der Him­mels­kör­per oder durch den gerech­ten Zorn Got­tes wegen unse­rer las­ter­haf­ten Hand­lun­gen zu unse­rer Bes­se­rung über die Sterb­li­chen ver­hängt, eini­ge Jah­re zuvor im Ori­ent ange­fan­gen […]. Unauf­halt­sam drang sie wei­ter von Ort zu Ort und ver­brei­te­te sich auf jam­mer­vol­le Wei­se auch über den Okzi­dent.“ Boc­c­ac­cio, Gio­van­ni ([1349/53] 1472/73), Der Deca­me­ro­ne. Zürich (Manes­se) 1957, Bd. 1, S. 13 [von mir unter­stri­chen, H. D.].
3 Acker­knecht, Erwin H. (1959), Geschich­te der Medi­zin, 7. Aufl., über­ar­bei­tet und ergänzt von A. H. Mur­ken, Stutt­gart (Enke) 1992, S. 64.
4 „Erst in der kapi­ta­lis­ti­schen Welt haben es die Men­schen ler­nen müs­sen, alle Güter in Markt­prei­se, alle Arbeit in Kos­ten­prei­se, den gan­zen Erfolg ihrer Lebens­ar­beit in Pro­fit­grö­ßen umzu­rech­nen. Erst dadurch wur­den die Men­schen einer Natur­auf­fas­sung geneigt, die alle qua­li­ta­ti­ve Indi­vi­dua­li­tät in blo­ße Quan­ta auf­löst. Nur das Mess­ba­re, Rechen­ba­re gilt“, heißt es bei Otto Bau­er. Bau­er (1924), „Das Welt­bild des Kapi­ta­lis­mus“; in: O. Bau­er (1961), Eine Aus­wahl aus sei­nem Lebens­werk, hg. von Juli­us Braun­thal, Wien (Wie­ner Volks­buch­hand­lung), S. 102-139 [Zitat auf S. 113]. – Natur, die der Men­schen und ihres Milieus, Mikro- und Makro­kos­mos wur­den als bere­chen­bar ent­zau­bert, die Welt nach dem Modell der indi­rek­ten Ver­ge­sell­schaf­tung von Sozial­ato­men gedeu­tet, der mensch­li­che Leib als Maschi­ne ver­stan­den, deren Defek­te tech­nisch beho­ben wer­den können.
5 „Die grund­le­gen­den bak­te­rio­lo­gi­schen Ent­de­ckun­gen gescha­hen zwi­schen 1878 und 1887 in der Grün­der­zeit.“ Acker­knecht, a. a. O. (Anm. 3), Kap. 15, S. 128.
6 Tuber­ku­lo­se, Pocken, Mala­ria, Kin­der­läh­mung, Masern …
7 Acker­knecht (1959), a. a. O. (Anm. 3), S. 131.
8 Vgl. dazu den Bericht von Conis, Ele­na, Micha­el McCoyd und Jes­sie A. Mora­vek über die Polio-Seu­che und die Ent­wick­lung eines Polio-Impf­stoffs: „What to expect when a coro­na­vi­rus vac­ci­ne final­ly arri­ves“, The New York Times, Inter­na­tio­nal Edi­ti­on, 22.06.2020, S. 11.
9 „Seid umschlun­gen, Mil­lio­nen“ lockt die Euro­pa-Hym­ne Tag für Tag, doch wehe, wenn die Vor­hut die­ser Mil­lio­nen das ernst nimmt und in Euro­pa Ein­lass begehrt.
10 Unsicht­ba­re Schran­ken tren­nen Gesun­de von Infi­zier­ten, Älte­re von Jün­ge­ren. Vgl. dazu den Appell zur Huma­ni­sie­rung unse­rer Gesell­schaf­ten. Nein zu einem selek­ti­ven Gesund­heits­we­sen: „Unse­re Zukunft – nicht ohne die alten Men­schen“, den u. a. Manu­el Cas­tells, Jür­gen Haber­mas, Adam Mich­nik und Michel Wie­vior­ka unter­zeich­net haben, Frank­fur­ter All­ge­mei­ne Zei­tung, 23.05.2020, S. 7.
11 Das Gesetz ver­bie­tet es Rei­chen wie Armen glei­cher­ma­ßen, „unter Brü­cken zu schla­fen, auf den Stra­ßen zu bet­teln und Brot zu steh­len.“ France, A. (1894), Die rote Lilie [Le lys rouge], Mün­chen 1925, S. 116.
12 Sau­er­brey, Anna (2020): „In Ger­ma­ny, a fraught reope­ning”, The New York Times, Inter­na­tio­nal Edi­ti­on, 19.05.2020, S. 1 und S. 11; Zitat auf S. 11.
13 „Eine Ver­leug­nung der Angst kann auf zwei­er­lei Wegen ver­sucht wer­den. Es kann eine gefähr­li­che Situa­ti­on ver­leug­net wer­den oder aber der Umstand, dass man sich ängs­tigt. ‚Reak­ti­ver Mut´ ist eine häu­fig anzu­tref­fen­de ein­fa­che Reak­ti­ons­bil­dung gegen eine noch wirk­sa­me Angst.“ Feni­chel, Otto (1945), Psy­cho­ana­ly­ti­sche Neu­ro­sen­leh­re, Olten (Wal­ter-Ver­lag) 1977, Bd. III, Kap. XX, S. 45.
14 Von der Gre­gor Stras­ser, der „Reichs­or­ga­ni­sa­ti­ons­lei­ter“ der NSDAP, am 10.05.1932 im Reichs­tag sprach …
15 Vgl. dazu Egan, Timo­thy (2020), „Bill Gates, the right tycoon for a virus age”, The New York Times, Inter­na­tio­nal Edi­ti­on, 25.05.2020, S. 10.

Theo­rie­bei­la­ge Avan­ti² Rhein-Neckar Juni 2020
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