In den Ker­kern des Sultans

Mit Mas­sen­ver­haf­tun­gen von Oppo­si­tio­nel­len berei­tet der tür­ki­sche Staats­chef Erdo­gan den Weg zur Präsidialdiktatur.

Nick Brauns

 

In den letz­ten Mona­ten haben wir uns immer wie­der mit der Ent­wick­lung in der Tür­kei aus­ein­an­der­ge­setzt. Aus inter­na­tio­na­lis­ti­scher Pflicht und weil die Dis­kus­si­on mit tür­ki­schen Kol­le­gIn­nen in Betrie­ben dies erfor­dert. Mit der Ver­haf­tung des deutsch-tür­ki­schen Jour­na­lis­ten Deniz Yücel durch das Erdo­gan-Regime hat die Debat­te über die Ver­tei­di­gung demo­kra­ti­scher Frei­heits­rech­te zum Leid­we­sen der Gro­Ko auch hier­zu­lan­de an Fahrt aufgenommen.
   
Wir haben in den nach­fol­gen­den Arti­kel Zwi­schen­über­schrif­ten zur bes­se­ren Les­bar­keit ein­ge­fügt. (Anmer­kung der Redaktion.)

Der tür­ki­sche Staats­prä­si­dent Recep Tayyip Erdo­gan scheint fest ent­schlos­sen, bis zum Refe­ren­dum über die Ein­füh­rung einer auf ihn zuge­schnit­te­nen Prä­si­di­al­dik­ta­tur im Früh­jahr jeg­li­che Oppo­si­ti­on und Kri­tik an sei­ner Per­son aus­zu­schal­ten. Seit dem geschei­ter­ten Mili­tär­putsch im Juli 2016 wur­den 82.000 Per­so­nen unter Ter­ro­ris­mus­vor­wür­fen fest- und die Hälf­te davon anschlie­ßend in Unter­su­chungs­haft genommen.

Bei einem Groß­teil der Inhaf­tier­ten han­delt es sich um mut­maß­li­che Anhän­ger der für den Putsch­ver­such ver­ant­wort­lich gemach­ten Sek­te um den in den USA leben­den Pre­di­ger Fet­hul­lah Gülen, die in jahr­zehn­te­lan­ger Wühl­ar­beit einen regel­rech­ten Par­al­lel­staat inner­halb der staat­li­chen Insti­tu­tio­nen der Tür­kei auf­ge­baut hat­te. Bis es im Jahr 2013 im Streit um Pos­ten und Pfrün­de zum Bruch zwi­schen Gülen und Erdo­gan kam, waren die Güle­nis­ten inner­halb des Staats­ap­pa­ra­tes an füh­ren­der Stel­le ver­ant­wort­lich für die Ver­fol­gung der kur­di­schen Befrei­ungs­be­we­gung und der revo­lu­tio­nä­ren Lin­ken. Nun erfah­ren die Anhän­ger des Pre­di­gers – dar­un­ter Unter­neh­mer, hohe Mili­tärs, Jus­tiz- und Poli­zei­be­am­te – am eige­nen Leib die von ihnen zuvor im Kolo­ni­al­krieg gegen die Kur­den eta­blier­ten Metho­den von Will­kür­jus­tiz, Fol­ter und Enteignungen.
Der Macht­kampf zwi­schen Erdo­gans isla­misch-kon­ser­va­ti­ver Regie­rungs­par­tei AKP und der Gülen-Bewe­gung stellt letzt­lich eine Aus­ein­an­der­set­zung zwi­schen zwei Frak­tio­nen inner­halb der herr­schen­den Klas­se dar. Doch gleich­zei­tig eska­liert der Kampf des Staa­tes gegen die kur­di­sche Frei­heits­be­we­gung und die lin­ke Opposition.

Ver­haf­tungs­wel­len
Die lau­fen­de Ver­haf­tungs­wel­le gegen kur­di­sche und sozia­lis­ti­sche Akti­vis­ten setz­te bereits nach dem Abbruch der Frie­dens­ge­sprä­che mit der kur­di­schen Befrei­ungs­be­we­gung im Juli 2015 ein. Es han­del­te sich um eine Reak­ti­on Erdo­gans auf den Wahl­er­folg der als lin­kes und pro­kur­di­sches Bünd­nis kon­zi­pier­ten Demo­kra­ti­schen Par­tei der Völ­ker (HDP), deren Par­la­ments­ein­zug im Juni 2015 der AKP bis zu den Neu­wah­len im Novem­ber 2015 ihre für die Allein­re­gie­rung not­wen­di­ge abso­lu­te Mehr­heit gekos­tet hatte.
Von der Repres­si­on betrof­fen ist ins­be­son­de­re die Demo­kra­ti­sche Par­tei der Regio­nen (DBP). Die­se ist nur kom­mu­nal­po­li­tisch tätig, stellt im mehr­heit­lich von Kur­den bewohn­ten Süd­os­ten der Tür­kei die am bes­ten orga­ni­sier­te poli­ti­sche Kraft dar und ist die mit­glie­der­stärks­te Grup­pie­rung inner­halb der HDP. Anders als die Gülen-Bewe­gung oder die kema­lis­tisch-sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Oppo­si­ti­ons­par­tei CHP, die bei­de grund­sätz­lich am auto­ri­tä­ren Staats­mo­dell unter der natio­na­lis­ti­schen Devi­se »ein Staat, eine Fah­ne, eine Nati­on« fest­hal­ten, ver­fügt die kur­di­sche Bewe­gung über die Visi­on einer fort­schritt­li­chen gesell­schaft­li­chen Alter­na­ti­ve für die gan­ze Tür­kei. In den von ihr regier­ten Kom­mu­nen hat­te die DBP ein auf basis­de­mo­kra­ti­schen Stadt­vier­tel- und Gemein­de­rä­ten beru­hen­des Sys­tem der Selbst­ver­wal­tung errich­tet. Um die­se in der Bevöl­ke­rung ver­an­ker­te Macht­ba­sis zu zer­stö­ren, ließ die AKP-Regie­rung im Früh­jahr gan­ze Stadt­vier­tel in Hoch­bur­gen der kur­di­schen Bewe­gung, in denen DBP und HDP auf Rekord­ergeb­nis­se von 60 bis 90 Pro­zent gekom­men waren, zu Rui­nen schie­ßen und Hun­dert­tau­sen­de Bewoh­ner vertreiben.

Laut einer Sta­tis­tik der kur­di­schen Nach­rich­ten­agen­tur Firat wur­den im Jahr 2016 rund 7.250 DBP-Mit­glie­der und Funk­tio­nä­re fest- und über 3.000 län­ger­fris­tig in Haft genom­men. Dar­un­ter sind die Par­tei­vor­sit­zen­den Seba­hat Tun­cel und Kam­uran Yük­sek sowie zahl­rei­che Pro­vinz- und Bezirks­vor­stän­de sowie 70 Bür­ger­meis­ter. In den von der DBP regier­ten Kom­mu­nen wer­den die Bür­ger­meis­ter­äm­ter jeweils pari­tä­tisch von einer Frau und einem Mann besetzt. In 50 die­ser Städ­te und Gemein­den – so auch in der Metro­po­le Diyar­bak­ir – wur­den mitt­ler­wei­le durch die Regie­rung per Dekret Zwangs­ver­wal­ter eingesetzt.

Raz­zi­en
Die nach der DBP am stärks­ten von der Repres­si­on betrof­fe­ne HDP-Mit­glieds­or­ga­ni­sa­ti­on ist die Sozia­lis­ti­sche Par­tei der Unter­drück­ten (ESP), der auch die HDP-Kovor­sit­zen­de Figen Yük­s­ek­dag ange­hört. Den bei lan­des­wei­ten Raz­zi­en ver­haf­te­ten Mit­glie­dern der ESP und ihres Jugend­ver­ban­des wird vor­ge­wor­fen, Vor­feld­or­ga­ni­sa­ti­on für die ille­ga­le Mar­xis­tisch-Leni­nis­ti­sche Kom­mu­nis­ti­sche Par­tei (MLKP) zu sein. Der tat­säch­li­che Haupt­grund für die Ver­fol­gung der ESP besteht jedoch dar­in, dass sich die­se Strö­mung kon­se­quen­ter als die meis­ten ande­ren Grup­pen der radi­ka­len Lin­ken um ein Bünd­nis von Sozia­lis­ten mit der kur­di­schen Befrei­ungs­be­we­gung bemüht.

Auch gegen außer­halb der HDP ste­hen­de links­ra­di­ka­le Grup­pie­run­gen gehen tür­ki­sche »Sicher­heits­kräf­te« vor. So befin­den sich mitt­ler­wei­le alle in der Tür­kei leben­den Mit­glie­der der bekann­ten Musik­grup­pe »Grup Yorum« in Haft, die von ihnen betrie­be­nen Kul­tur­zen­tren wur­den geschlossen.
Am 3. Novem­ber 2016 wur­den die Vor­sit­zen­den der HDP, Sela­hat­tin Demir­tas und Figen Yük­s­ek­dag, sowie wei­te­re Par­la­men­ta­ri­er inhaf­tiert. Aktu­ell sit­zen elf HDP-Abge­ord­ne­te im Gefäng­nis, gegen wei­te­re Volks­ver­tre­ter bestehen Haft­be­feh­le. Als Ter­ror­pro­pa­gan­da wird ihnen bereits die For­de­rung nach Auto­no­mie­rech­ten für die kur­di­sche Bevöl­ke­rung oder die Teil­nah­me an Trau­er­fei­ern für Sozia­lis­ten aus­ge­legt, die bei Anschlä­gen der Dschi­ha­dis­ten­mi­liz »Isla­mi­scher Staat« (IS) getö­tet wur­den. Für die Auf­he­bung der par­la­men­ta­ri­schen Immu­ni­tät die­ser Abge­ord­ne­ten hat­ten bereits im Mai 2016 – rund zwei Mona­te vor dem Putsch­ver­such – die Frak­tio­nen der regie­ren­den AKP, der faschis­ti­schen MHP und ein Teil der sozi­al­de­mo­kra­ti­schen CHP-Frak­ti­on gestimmt.

Gleich­schal­tung
Zen­tral für die Errich­tung der Prä­si­di­al­dik­ta­tur in der Tür­kei ist die Gleich­schal­tung der Medi­en. Ins­ge­samt nahe­zu 200 Zei­tun­gen, Radio- und Fern­seh­sen­der sowie Nach­rich­ten­agen­tu­ren wur­den in den ver­gan­ge­nen Mona­ten geschlos­sen. Die Zahl der inhaf­tier­ten Jour­na­lis­ten beträgt annä­hernd 150. Betrof­fen sind nicht nur die Mit­ar­bei­ter Gülen-naher oder kur­di­scher Medi­en. Auch der Her­aus­ge­ber und neun wei­te­re Jour­na­lis­ten der renom­mier­ten libe­ra­len Tages­zei­tung Cum­hu­ri­y­et befin­den sich in Haft. Ende des Jah­res wur­de zudem der bekann­te Inves­ti­ga­ti­v­jour­na­list Ahmet Sik auf­grund regie­rungs­kri­ti­scher Äuße­run­gen auf Twit­ter inhaf­tiert. Ein Ende der Mas­sen­in­haf­tie­run­gen ist nicht in Sicht. Für 2017 kün­dig­te Jus­tiz­mi­nis­ter Bekir Boz­dag bereits den Bau von 175 neu­en Gefäng­nis­sen an.

Aus: Sozia­lis­ti­sche Alter­na­ti­ven erkämp­fen, Bei­la­ge der jun­gen Welt vom 14.01.2017.
Nach­druck mit Geneh­mi­gung des Autors.

aus der Rhein-Neckar Bei­la­ge zur Avan­ti März 2017
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