Helmut Dahmer
Die Entwicklung des politischen Begriffs „Faschismus“ währt nun schon ein Jahrhundert. Er bezeichnete zunächst die Kampfbünde Mussolinis und deren Aufgabe, die anarcho-kommunistisch, internationalistisch und pazifistisch orientierten italienischen Arbeiter- und Räteorganisationen der Jahre direkt nach dem Ersten Weltkrieg gewaltsam niederzuschlagen. Mussolini gewann mit seiner ultranationalistisch-kolonialistischen Ideologie und Politik die tatkräftige Unterstützung der besitzenden und darum zahlungsfähigen Klasse (Landeigentümer, Industrielle, Bankiers) und diejenige der Machtorgane (Heer, Justiz, Polizei, Monarchie…).
Hitler, Dollfuss, Salazar (1933), Metaxas (1935), dann Franco (1936) und im Weiteren eine ganze Reihe von osteuropäischen und lateinamerikanischen, diktatorischen Regimen versuchten, unter Berücksichtigung nationaler Besonderheiten Mussolinis Beispiel zu folgen.
Funktion faschistischer *Bewegungen und Regime
Die Funktion der faschistischen Bewegungen und Regime war (und ist) es, die Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung der kapitalistischen Wirtschaft nach den beiden verheerenden „Weltkriegen“ und in der Krise unserer Gegenwart gewaltsam zu sichern. Das heißt: Die Kontrolle über die nationalen Wirtschaften – und über deren Verkettung in der Weltwirtschaft – bleibt einer (schrumpfenden) Gruppe von Finanzkapitalisten überlassen, die ausschließlich auf maximale Gewinne (Kapitalakkumulation) aus ist. Diese ist zudem in der Lage, Parteien und paramilitärische Verbände zu finanzieren, sofern sie den für sie günstigen Status quo absichern. Dieser Status quo bedeutet: Permanente Kriege um Bodenschätze, Absatzmärkte und Einflusszonen; Verelendung ganzer Bevölkerungen in den „unterentwickelten“ Ländern; Verwüstung unseres Lebensraums durch Erwärmung des globalen Klimas.
Praxis faschistischer Demagogen
Die Praxis faschistischer DemagogInnen (ob Strache, Gauland, Le Pen oder Bolsonaro), ihrer Organisationen (braun oder blau) und Diktatoren besteht in der Agitation und Mobilisierung erstens derjenigen Teile der (ständig wachsenden lohnabhängigen) Bevölkerung, die keine Arbeit finden (oder noch nie Arbeit hatten) und darum zu Almosenempfängern geworden sind. Zweitens der schrumpfenden, scheinselbständigen, „verunsicherten“ Zwischenschichten und drittens der hoffnungslosen und desorientierten, darum zu allem fähigen Paria-Schichten.
Aus diesen Massen von unselbständigen, orientierungslosen, verängstigten Menschen schmieden die Agitatoren-Diktatoren ihre Gefolgschaften, denen sie – als vermeintlich ebenfalls „kleine“, demnächst aber große und in jedem Fall starke Männer oder auch Frauen – Besserung versprechen: vor allem eine Abrechnung mit den vermeintlich an ihrer Misere Schuldigen. Die faschistischen Agitatoren sind Meister in der Lenkung der Ressentiments ihrer Klientel. Sie zeigen ihr die „wahren Schuldigen“ – wehrlose Minderheiten (Juden, „Zigeuner“, „Asoziale“, „Volksfeinde“, „Volksverräter“ und Fremde aller Art wie Ausländer, Flüchtlinge, Migranten, Andersgläubige und Atheisten, Homosexuelle und andere „Abweichler“) – und stellen ihnen deren gezielte Verelendung und mögliche „Beseitigung“ in Aussicht.
Je nach Kräfteverhältnis und Volksstimmung läuft das auf Reglementierung und Konzentration in „Lagern“ dieses oder jenes Typs, Enteignung, Ausweisung, Vertreibung oder „Liquidierung“ hinaus. Als Ultra-Nationalisten versprechen die faschistischen Demagogen die gewaltsame Rettung, Wiederherstellung, Verteidigung und ruhmreiche Vergrößerung der Nationalstaaten, die seit 100 Jahren ständig an Bedeutung verlieren. Das soll zum einen durch die „Sicherung“ der nationalen Grenzen gewährleistet werden – also durch Wälle und Mauern, Polizei- und Militärpatrouillen, Lager innerhalb und außerhalb der Landesgrenzen –, zum andern durch gewaltsame Rücktransporte in als „sichere Zufluchtsstaaten“ ausgegebene außereuropäische bzw. mittelamerikanische Länder, deren politische Führungen zu diesem Zweck großzügig bestochen werden. Durch diese und ähnliche Maßnahmen sollen Millionen von Kriegs-, Hunger- und Klimaflüchtlingen abgeschreckt werden, die versuchen, dem Elend ihrer afrikanischen, lateinamerikanischen oder mittelöstlichen „Heimatländer“ zu entkommen, und die an die Türen der wenigen Wohlstandsoasen hämmern, Einlass und ihren Teil am Weltreichtum begehrend.
Rassistische Homogenisierungsprogramme
Ferner wird den Erniedrigten und Beleidigten der hochentwickelten Oasenländer eine „bevölkerungspolitische“ Homogenisierung ihrer ethnisch uneinheitlichen Gesellschaften in Aussicht gestellt. Das heißt eine bevölkerungspolitische „Säuberung des jeweiligen Volkskörpers“ von allen Menschen, die nicht seit Generationen schon in dem jeweiligen Land ansässig waren und dessen – als „glorreich“ fingierte – Geschichte geteilt haben. Dieses rassistische Homogenisierungsprogramm ist eine Kriegserklärung an alle für nicht-zugehörig erklärten Menschen inner- halb und außerhalb der Landesgrenzen.
Abgesehen von der Hoffnung auf einen künftigen Anteil am Raubgut (durch „Arisierungs“-Maßnahmen oder „gerechte“ Kriegszüge) ist es vor allem die Prämie, die den „Nichtgehörten“ und „Abgehängten“ allein dadurch zufällt, dass ihre DemagogInnen sie zu den einzig Hierseins- und Daseinsberechtigten erklären, was sie dann dazu bewegt, dieser Sorte von „Volkstribunen“ ihre Stimmen und Fäuste zu leihen.
Im Laufe der vergangenen 150 Jahre haben sich die modernen Gesellschaften (Europas und Amerikas) aus Gesellschaften kleiner und mittlerer Eigentümer in Gesellschaften abhängig Beschäftigter verwandelt. Diese Umbildung der Sozialstruktur hat das Aufkommen von neuartigen „massenfeindlichen Massenbewegungen“ ermöglicht. Diese haben wiederum die Etablierung jener „totalitären“ Regime begünstigt, die Millionen von Menschen vernichtet haben. Das Leben in „Abhängigkeit“ und die Erfahrung, dass totalitäre Regime in der Lage sind, straflos jede „autonome“ Regung in der Bevölkerung zu ersticken, hat die Widerstandskräfte gerade in den am meisten entwickelten Ländern nachhaltig geschwächt. Die oft beklagte politische Apathie weiter Teile der Bevölkerung hat darin ihren Grund. Überwiegen sogenannte „autoritäre (oder faschistoide) Charaktere“, die sich konformistisch, also autoritätshörig verhalten, alles Abweichende hassen, zu Projektionen, zum Aberglauben und zur Stereotypisierung neigen, dann steht es um die Verteidigung der wenigen parlamentarischen Republiken – geschweige denn um deren ausstehende wirtschaftsdemokratische Fundierung – schlecht.
Darum wiederholt sich gegenwärtig in Europa und Amerika die aus den 1930er-Jahren bekannte Verwandlung schwächelnder parlamentarischer Regime in autoritäre (Polen, Ungarn, Italien usw.). Damals schon waren die (unter einander zerstrittenen) Parteien, die für eine gesellschaftliche Alternative eintraten und an das Selbsterhaltungs-Interesse der Bevölkerung appellierten („Wer Hitler wählt, wählt den Krieg!“), außerstande, den Sieg der faschistisch begeisterten Massen und ihrer mächtigen Verbündeten zu verhindern.
Die Erinnerung an das Desaster, zu dem die nationalen Aufbrüche der dreißiger Jahre führten, beginnt aber zu verblassen, und das Interesse, die eigenen Privilegien auf Kosten möglichst vieler anderer zu verteidigen und auszubauen, treibt ein Fünftel oder gar ein Drittel der Bevölkerung der höchstentwickelten Staaten rechten DemagogInnen zu, die heute wie gestern versprechen, die gesellschaftliche Entwicklung aufzuhalten oder umzukehren und all diejenigen zu beglücken, die „zu uns“ – zu „unserem Volk“ – gehören.
Umlackierte Nazis von heute
Nach ihrer militärischen Niederlage im Zweiten Weltkrieg und dem Bekanntwerden des Völkermords an den europäischen Juden durch die Nürnberger und die Auschwitz-Prozesse leugnete ein Teil der Faschisten hartnäckig ihre Untaten. Ihre Mehrheit zog es indessen vor, einfach den Namen zu wechseln. In den Ländern „ohne Juden“ gab es darum plötzlich auch keine Faschisten mehr. Die Faschisten oder Nazis von heute („Neonazis“) sind solche, die nicht mehr bei ihrem richtigen (Partei-)Namen genannt werden wollen. Sie ziehen Pseudonyme vor.
Das Programm dieser heutigen Faschisten, die gerade drauf und dran sind, sich wie in den dreißiger Jahren zu einer Internationale der Nationalisten zusammenzuschließen, gleicht dem ihrer Vorgänger aufs Haar. Gegen die Herrschaft der Finanzkapitalisten haben sie nichts einzuwenden. Sie hoffen, dass diese sie in der nächsten Krise zu Hilfe rufen und dann für ihre Dienste fürstlich belohnen. Sie kämpfen gegen die Gleichberechtigung von „Rassen“, Völkern und Klassen. Sie versprechen, den jeweiligen Nationalstaat durch „Homogenisierung“ der „angestammten“ Bevölkerung, autarke Wirtschaftspolitik und Abschottung gegen Migration zu verteidigen. Sie geloben, die Stammbevölkerung gegen „Umvolkung“ zu schützen und deren „heimische“ Kultur (die „überkommenen“ Werte) vor „Überfremdung“ zu bewahren. Erweist dies Programm sich als utopisch, so werden sie – wie ihre Vorgänger – nicht zögern, es gewaltsam in die Tat umzusetzen, gleichgültig, welche Opfer das fordert.
Salvinis Faschismus
2009 plädierte er für die Trennung von Italienern und Einwanderern in Eisenbahn-Abteilen und für die Wieder-Einführung eines Paragraphen zur strafrechtlichen Verfolgung „illegaler Einwanderung“. Im Hinblick auf Sinti und Roma meinte er, es müsse ja schließlich einen Grund dafür geben, dass sie als „Diebe“ angesehen würden. Den Euro nannte er eine „kriminelle Währung“. Im Bund mit der neofaschistischen Bewegung und Partei „Casa Pound“ und mit Putin schlug er 2014 eine Aussetzung des Schengen-Abkommens vor. Den italienischen Präsidenten und früheren Widerstandskämpfer Carlo A. Ciampi nannte er nach dessen Tod 2016 einen „Verräter Italiens und der Italiener“.
Einer der Berater Salvinis ist der Vorsitzende des Kulturvereins Lombardei-Russland, Savoini, der seinerseits ein Anhänger des russischen Neofaschisten A. Dugin ist (einem Unterstützer der russischen Großmachtideologie des „Eurasismus“). 2015 lud Salvini zu einer Großveranstaltung der Lega in Rom sowohl Anhänger der griechischen „Goldenen Morgenröte“ als auch den deutschen „Vordenker“ der Rechten, Götz Kubitschek, ein.
Nach einem Anschlag auf afrikanische Migranten schrieb Salvini, die „unkontrollierte Einwanderung“ führe eben zu „Chaos, Wut und sozialen Zusammenstößen“. In den letzten Jahren hat Salvini wiederholt die Landung von Flüchtlingsschiffen, die Afrikaner vor dem Ertrinken im Mittelmeer retteten, in italienischen Häfen (Lampedusa) untersagt, jüngst eines dieser Rettungsschiffe beschlagnahmen und dessen Kapitänin verhaften lassen. Anfang August setzte Salvini – unter der Bezeichnung „Sicherheitser- gänzungsgesetz“ – neue, weitreichende Vollmachten für die Polizei durch. Schließlich kündigte er ein Misstrauensvotum gegen „seinen“ (parteilosen) Ministerpräsidenten Giuseppe Conte an und forderte Neuwahlen. Seine eigene Partei, die Lega, erklärte vielsagend: „Wer Zeit verliert, schadet dem Lande“.